30. Dämmerschlaf

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Harry

Der seltsame, betäubende Schleier des Heroins legte sich über ihn und seine Schmerzen; es existierten keine Probleme und Schwierigkeiten mehr. Er war glückselig, ein warmes Gefühl durchströmte seinen Körper und drang in jeden seiner Winkel vor. Er schloss für einen Moment lang die Augen, während die Schweißperlen auf seiner Stirn trockneten. Er war müde, geradezu erschöpft - er hatte nur einen einzigen Wunsch; er wollte seinem Bedürfnis nach Schlaf und Erholung nachkommen, während sich seine Ängste lösten und Spannungen und Furcht von ihm abfielen. In diesem Moment war er wahrlich frei von Sorgen; zumindest so lange, wie die Wirkung des Heroins anhielt.

Langsam richtete er sich auf, dachte nicht mehr darüber nach, wo zur Hölle er nun schlafen sollte, wenn Louis ihn nicht bei sich haben wollte.

Er verließ die Bahnhofstoiletten, ohne sich die Hände zu waschen, beide Augen zu zwei kleinen Schlitzen verengt; sie waren so schwer, dass er sie kaum offen halten konnte. Der ganze Körper juckte.

Er ging nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch brannte nicht in seinen Atemwegen - im Gegenteil; er spürte ihn kaum. Dafür spürte er das Glück und die Ruhe in sich umso deutlicher; er setzte sich auf den dreckigen Boden und lehnte sich gegen die Mauer des Bahnhofsgebäudes, ehe seine Augen sich langsam schlossen und er in einen umerholsamen, traumlosen Schlaf abdriftete.

Louis

Es fiel ihm noch immer schwer zu fassen, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte. Er wusste nicht genau, wie es von nun an zwischen ihnen weitergehen sollte; vielleicht, so dachte er, war es besser, Harry erst einmal für eine Weile aus dem Weg zu gehen - schließlich musste er sich auf seine berufliche Zukunft konzentrieren und nicht darauf, einen Heroinabhängigen zurück auf den richtigen Pfad zu bringen.

Kaum hatte er diesen Gedanken zu ende gedacht, meldete sich sein inneres Gewissen zu Wort - Was würde passieren, wenn er ihm aus dem Weg gehen würde? Würde er auf sich achten oder noch mehr im Drogensumpf versinken?

Louis kannte die Antwort.

Er wollte nicht mehr weiter darüber nachdenken und beschloss, an diesem Abend ganz einfach schlafen zu gehen, um seinem Körper die dringend benötigte Erholung zu geben, nach der er wahrlich lechzte. Die Gedanken in seinem Kopf allerdings drehten sich im Kreis und waren so laut, dass es ihm unmöglich war, einzuschlafen. Wie ein Karussell drehten sich seine Gedanken immer um den selben Punkt - dieser Punkt war Harry.

Mittlerweile war Louis sich sicher, ernste Gefühle für ihn entwickelt zu haben, die mit Sorge und Mitgefühl ebenso einhergingen wie mit Ärger und Zorn.

War es tatsächlich richtig gewesen, ihn am Bahnhof allein zu lassen, mit all den seltsamen Gestalten, die sich dort nachts umhertrieben?

Dann allerdings hatte er ihn belogen; Louis hatte absolut keine Lust, ihn in seinem zugedröhnten Zustand bei sich zu haben.

Er fragte sich, was Harry gerade tat. Schlief er auf irgendwelchen Banken am Hauptbahnhof, so wie er das früher oft getan hatte?

Oder hatte er alte Freunde getroffen, in deren versifften Wohnungen er eine Nacht lang unterkommen konnte?

Der Gedanke war für Louis nur schwer zu ertragen; er wollte Harry in einer sicheren Umgebung wissen, war sich allerdings zu hundert Prozent und mehr darüber im Klaren, dass er sich aller Wahrscheinlichkeit nach an keinem sicheren Ort befand. Dieser Gedanke machte ihn krank.

Die Ungewissheit stieß ihn von einem Bettende zum anderen, ehe er die Decke zurückschlug und wieder an sich zog; er ging zur Toilette, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser - nichts half.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt