74. Ich kann das nicht tun

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Harry

Er trottete nach Hause.

Deprimiert, unsicher und mit der großen Frage im Hinterkopf, was er jetzt Bitteschön tun sollte.

Würde er nicht innerhalb kürzester Zeit eine weitere Dosis Oxycodon organisieren, würde er entzügig werden – und das war alles andere als angenehm.

Er wollte einen körperlichen Entzug um jeden Preis vermeiden, doch wo zur Hölle sollte er so schnell Oxycodon herbekommen, jetzt, wo man ihn ausgestellt hatte?

Er wollte sich auch kein Methadon von seinem Hausarzt holen, denn dann hätte er diesem ja seinen Rückfall gestehen müssen.

Nie wieder hätte er auch nur ein einziges Opiat von ihm verschrieben bekommen, abgesehen von dem Methadon natürlich.

Und Methadon konnte Harry nicht leiden.

Es machte keinen Rauschzustand, es kickte nicht so wie das Heroin.

Es diente lediglich dazu, körperliche Entzugserscheinungen zu verhindern.

Hinzu kam die Gewissheit, dass er seinen Arbeitsplatz verloren hatte, für den er eigentlich so hart gekämpft hatte. Es schien alles irgendwie umsonst gewesen zu sein.

Es war so ermüdend, und er hätte sich am liebsten einfach nur in sein Bett gelegt, um der Außenwelt irgendwie zu entkommen.

Früher oder später musste er sich den Konsequenzen seines Handelns allerdings stellen, und da entschloss er sich lieber dazu, das gleich zu tun. Zumindest, bevor die ersten Entzugserscheinungen auftraten.

Zögernd zog er sein Telefon aus der Tasche. Er wählte Richie's Nummer und wartete ungeduldig, bis dieser abhob. „Harry?", fragte er ungläubig in den Hörer. „Ich hätte nicht erwartet, so schnell von dir zu hören."

„So schnell?", wiederholte Harry wütend, „Hast du sie noch alle?"

„Reg dich ab", beschwichtigte Richie und Harry konnte hören, wie er an seiner Zigarette zog. „Was brauchst du?"

Harry sah sich um und senkte seine Stimme. „Hast du Oxycodon?"

Ein Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. „Bist du jetzt etwas Besseres, oder warum willst du etwas, das fast genauso wirkt wie Heroin, aber doppelt so viel kostet?"

Harry dachte einen Moment lang darüber nach.

Irgendwie fühlte Oxycodon sich nicht ganz so falsch an wie Heroin – immerhin war es ein Medikament, und nicht wirklich eine illegale Droge. Zumindest so lange, wie man sich an die vom Arzt verordnete Dosis hielt.

Über diesen Punkt war Harry längst hinweg, denn er hatte es ja noch nicht einmal von einem Arzt verordnet bekommen.

Er seufzte. „Hast du welches oder nicht?"

„Natürlich hab ich welches", gab Richie zurück, „Aber ich kriege es nur sehr unregelmäßig. Ist schwierig zu beschaffen."

Harry verdrehte die Augen.

Das konnte doch nicht wahr sein.

„Warum kommst du nicht einfach vorbei?", schlug Richie vor. „Hol dir ein bisschen Heroin. Damit fährst du besser, glaub mir."

Harry fuhr sich nervös über das blasse Gesicht.

Es war verdammt hart, jetzt nicht einzuknicken.

Louis würde ihn umbringen, wenn er auch nur ein einziges Mal nur daran denken würde, sich einen Schuss zu setzen.

„Das geht nicht...", murmelte Harry.

Richie kicherte am anderen Ende der Leitung wie ein kleiner Schuljunge. „Was ist denn passiert?", wollte er wissen, „Wo warst du denn die ganze Zeit?"

„Ich hatte mein Leben im Griff", antwortete Harry, und dann fiel ihm auf, dass das eigentlich gar nicht wirklich stimmte.

„Das sehe ich", gab Richie ironisch zurück. „Deshalb rufst du am helllichten Tag bei mir an und fragst nach Oxycodon, obwohl wir uns seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen haben."

Ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust.

Er erinnerte sich nicht gern an den Tag, an dem für ihn alles nur noch schlimmer geworden war.

An den Tag, an dem er vor Richie's Füßen zusammengesackt war, und er ihn einfach auf die Straße gestellt hatte.

„Was ist eigentlich mit dir passiert, nachdem du in meiner Küche fast den Löffel abgegeben hättest?", flötete Richie am anderen Ende der Leitung weiter.

Harry spürte, wie sein Brustkorb sich zusammenzog. Die Art seines ehemaligen Freundes widerte ihn an. So sehr, dass er am liebsten direkt wieder aufgelegt hätte, hätte er ihn nicht so dringend gebraucht.

„Ich war im Krankenhaus", zischte Harry in den Hörer. „Sieben Monate lang."

Richie pfiff durch die Zähne. „Sieben Monate? Hast du einen Entzug gemacht?"

Harry verdrehte die Augen. „Ich hatte eine Blutvergiftung und lag im künstlichen Koma."

„Oh", kam es von Richie, der tatsächlich einen Moment lang sprachlos war. „Naja, aber du bist ja durchgekommen."

Wieder dieses schmerzhafte Ziehen in seiner Brust, als Richie so abfällig über die schrecklichste Zeit in seinem Leben sprach.

„Also, kommst du jetzt vorbei?", wollte Richie von ihm wissen.

Harry seufzte, weil er ganz genau wusste, dass er sich ohnehin nicht ewig würde wehren können.

„Klar", antwortete Harry und spürte, wie sich in seiner Brust wieder dieses große, schwarze Loch öffnete. „Ich bin in einer halben Stunde bei dir."

*

Als Harry die Wohnung seines Dealers betrat, wurde ihm ganz anders.

Hier hatte diese ganze schreckliche Sache ihren Anfang genommen, und die Erinnerung an die Tage vor seinem Zusammenbruch ließ ihn einfach nicht los.

Wie er sich hundeelend gefühlt, und Richie ihn einfach auf die Straße gesetzt hatte, ohne sich weiter darum zu kümmern.

Harry spürte, wie seine Atmung sich beschleunigte.

Er ließ sich auf Richie's versifftem Küchenstuhl nieder und nahm dankend eine Zigarette an, die er ihm anbot.

„Hast du dir auf dem Weg hier her nochmal Gedanken gemacht?", hakte Richie nach. „Oxycodon oder Heroin?"

Eine unangenehme Hitzewelle stieg in Harry's Brust nach oben. „Ich weiß es doch auch nicht", antwortete er und fuhr sich über das erschöpfte Gesicht. „Ich will nicht wieder anfangen zu drücken. Davon komme ich doch nie wieder los."

Ein bitteres Lachen drängte sich aus Richie's Brust. „Von dem Oxycodon offensichtlich auch nicht."

Harry spürte, wie seine Augen erneut feucht wurden, aber er schluckte die Tränen hinunter.

„Das Heroin ist nur halb so teuer und ich bekomme es regelmäßig."

Harry spürte, wie sich Fassungslosigkeit in ihm breit machte.

Heute Morgen war er noch aufgestanden und zur Arbeit gegangen, und gegen Mittag hatte er keine Arbeit mehr und saß bei seinem alten Dealer in der heruntergekommenen Küche und versuchte, sich zwischen Oxycodon und Heroin zu entscheiden.

Doch dann fiel ihm Louis wieder ein, und die Art und Weise, wie er sich in den letzten Monaten für ihn aufgeopfert hatte.

Die Art und Weise, wie er für ihn da gewesen war und ihm versprochen hatte, dass sie das alles schon irgendwie schaffen würden.

Und was machte er?
Er hatte nichts Besseres zu tun als bei der erstbesten Gelegenheit rückfällig zu werden und ihm auch noch dreist ins Gesicht zu lügen.

Er presste die Lippen aufeinander und sprang auf. „Ich kann das nicht tun", sagte er und eilte zur Tür. „Ich ... Ich melde mich bei dir."
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Meine Lieben,
ich wünsche euch einen schönen Donnerstag Abend.🤍
Seid ihr schon bereit für das Wochenende?
Danke für's Lesen und ich freue mich auf eure Rückmeldungen.🤍

All the love,
Helena xx

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt