o6. Darf ich dich etwas fragen?

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Harry

Natürlich war ihm klar, dass Louis eigentlich andere Dinge zu tun haben dürfte - und natürlich war ihm klar, dass diese weitaus wichtiger waren als ein Ausflug in die Drogenszene Londons, in die sich kaum ein Tourist unfreiwillig verirrte.

Erste Haltestelle war hierbei ein in Louis' Augen sehr ominöses Viertel, in dem leicht bekleidete Frauen mit apathischen Blicken, ungewaschenen Haaren und Zigaretten in der Hand an der Straße standen und vermutlich darauf warteten, dass ein Auto vorbeifuhr, in dem ein interessierter Freier saß. Harry erzählte ihm, dass hier früher beinahe all seine weiblichen Freunde gejobbt hatten, um sich ihren Stoff leisten zu können.

Ein Großteil von ihnen war heroinabhängig gewesen, sagte er, und Heroin war teuer. „Ich kann mich an ein Mädchen erinnern, das nach fast zweijähriger Abhängigkeit tot auf einer Bahnhofstoilette gefunden wurde."

Louis zog beide Augenbrauen nach oben und schlang beklommen beide Arme um den zierlichen Körper. „Kann der Körper innerhalb von zwei Jahren tatsächlich so zerstört werden?"

Harry schüttelte seinen Kopf. „Es war wohl weniger das Heroin selbst, das sie getötet hat, als ihre eigenen Gedanken."

Louis verstand und nickte. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und Harry gebeten, ihn wieder zurück zum Piccadilly Circus zu bringen. Es gab genau zwei Gründe, die ihn davon abhielten: Zum Einen wollte er Harry tatsächlich beweisen, dass es ihm mit seinem Mitgefühl ernst war, und zum Anderen wollte er - ganz einfach - nicht als unmännlicher Angsthase wahrgenommen werden.

„Hier haben wir oft gesessen", Harry zeigte auf eine heruntergekommene Seitengasse, in der mehrere mittlerweile unbrauchbare Holzkisten standen. Vermutlich der Eingang zum Hinterhof irgendeines schmutzigen Ladens, von dem Louis gar nicht wissen wollte, was darin vor sich ging.

Harry trat näher an die Kisten heran, stupste eine davon mit seinem Fuß an und beobachtete sie dabei, wie sie einige Zentimeter zurückschlitterte. Die alte Sehnsucht stieg wieder in ihm nach oben.

Ihm wurde ganz heiß und er musste sich trotz der kühlen Herbstluft etwas Wind zu wedeln, um sich das Atmen leichter zu machen. Da fiel ihm die kleine Plastiktüte mit getrocknetem Marihuanakraut in seinen Taschen ein, und am liebsten hätte er es mit seinem Tabak gemischt und die Sorglosigkeit für einen Moment lang genossen. Nur war es längst nicht dasselbe Gefühl, das er so sehr vermisste - diese Wärme, die seinen Körper durchströmte, wenn er sich den ersten Druck des Tages setzte, diese Ruhe, die er dabei empfand.

Die unangenehmen Nebenwirkungen, um es nett auszudrücken, verdrängte er so weit, dass sie in seinem Kopf keinen Platz mehr fanden. „Und was habt ihr hier gemacht?", wollte Louis wissen, während er sich neben Harry auf eine der Kisten niederließ.

Er zuckte beide Schultern, dachte einen Moment lang darüber nach und stieß schließlich ein so schweres Seufzen aus, dass Louis das Gefühl hatte, es hätte beinahe sehnsüchtig geklungen.

Louis

Er beobachtete Harry dabei, wie er seinen Geldbeutel aus seinem Rucksack zog. Als er das Kleingeldfach öffnete, schlug Louis ein unbekannter, doch so verdächtiger Geruch entgegen, dass er Harry die kleine Tüte in seiner Hand am liebsten sofort abgenommen hätte. Allerdings war er weder sein Vater, noch die Polizei oder ein x-beliebiger Arzt der Entzugsklinik - er konnte ihm nicht vorschreiben, was er zu tun oder zu lassen hatte.

Kommentarlos zog der braunhaarige Junge ihm gegenüber Zigarettentabak und Papes aus seiner Tasche, mit denen Louis niemals eine Zigarette hätte drehen können. Er sah ihm dabei zu, wie er seine seltsame Substanz - von der Louis tatsächlich keine Ahnung hatte, was es war - auf dem Tabak im Pape verteilte und begann, sich heiser zu räuspern. „Harry?"

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt