o4. Herzlichen Glückwunsch, Sherlock

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Harry


Er schlug seine Augen in völliger Dunkelheit auf. Es war still. Alles, was er hören konnte, war Liam's leiser Atem, etwa fünf Meter von ihm entfernt. Ihm war heiß und sein Atem ging schneller als sonst. Brennendes Verlangen stieg in seinem Gehirn nach oben und Bilder von jenem letzten Sommer jagten durch seinen Kopf.

Er setzte sich auf, fuhr mit beiden Händen über das hitzige Gesicht und stieß ein tiefes Seufzen aus.

Es war genau wie jede Nacht.

Gott, er vermisste das Zeug so. Das liebliche zufallen der Augen vor der Welt, die dämmernde Ruhe, die leichte Übelkeit. Methadon kam an diese Wirkung nicht ansatzweise ran - und das war genau der Punkt, der ihn störte.

Er war morgens der erste, der vor der Methadonklinik zwei Straßen weiter und mit der Unterschrift der Betreuer seine tägliche Dosis abholte, und trotzdem war er der Letzte, der wieder ging. Er wollte sich mit einigen alten Bekannten unterhalten und tief hineinspüren, in das Gefühl von früher. Viele seiner Freunde lebten nicht mehr.

Sein Atem ging so schnell, dass er das Gefühl hatte, irgendetwas würde auf seine Brust drücken. Er öffnete das Fenster, ließ sich auf dem Fensterbrett nieder und zündete sich eine Zigarette an. Wie er diese nächtlichen Schübe hasste.


Louis


Es hatte ihn nie interessiert. Seinetwegen hätten Drogenabhängige jämmerlich an ihrer Sucht verrecken können - es wäre ihm egal gewesen. Seiner Meinung nach waren diese Leute an all ihren Problemen selbst schuld. Niemand zwang sie schließlich, dieses Zeug immer und wieder einzuschmeißen - dachte er zumindest.

Spät nachts, während Harry seine Zigarette rauchte, saß Louis mit einem brandneuen MacBook in seinem Schlafzimmer und versuchte, so viel über Heroin herauszufinden, wie nur irgendwie möglich. Weshalb genau er das tat, wusste er nicht.

Vor seinem inneren Auge sah er nur ein paar grüner Augen und zwei Arme, die voller Tattoos waren.

Er stieß ein leises Gähnen aus, sah einen Moment lang auf den Bildschirm seines Fernsehers, und wand sich dann wieder der Internetseite zu, auf der er sich schon gut eine halbe Stunde herumtrieb. Zuvor hatte er sich Erfahrungsberichte und medizinische Grundlagen angesehen.

Er hatte Mitleid mit dem jungen Mann, den er eigentlich nur durch einen unglücklichen Zufall kennengelernt hatte.

Es war das erste Mal. Noch nie zuvor hatte er sich wirklich für andere Menschen interessiert, schon gar nicht für arme Drogenabhängige, die kein zu Hause hatten und in irgendwelchen Einrichtungen aufwuchsen, die für genau solche Fälle zuständig waren.

Aber an diesem Abend versuchte er, Harry's bisheriges Leben zu verstehen.


Harry


Es ist nur in deinem Kopf, sagte er sich immer wieder. Das Verlangen ist nur in deinem Kopf. Es ist nicht real.

Während er den letzten Rest seiner zweiten Zigarette rauchte, drehte er die Karte dieses seltsamen Typen in seiner Hand und dachte über das nach, was Liam ihm gesagt hatte.

Er solle ihn vielleicht genau aus dem Grund heraus anrufen, dass er ihm noch eine Fahrkarte durch halb London schuldete.

Natürlich war das nur ein Scherz gewesen, aber darum ging es ihm gar nicht. Es ging ihm um die Grundidee, diesen Typen tatsächlich anzurufen. Das Gespräch des heutigen Vormittages wollte ihm nämlich so gar nicht aus dem Kopf gehen, auch wenn er versuchte, es zu ignorieren.

Auch wenn er das auf eine verdammt beschissene Art getan hatte, er war der erste seit ein paar Jahren, der ihm gezeigt hatte, dass er nicht völlig unsichtbar war. Zumindest der erste Fremde.

Harry fühlte sich in großen Menschenmengen generell nicht wohl. Er fühlte sich anonym und unsichtbar, als wäre er gar nicht hier. Als hätte er keinen Wert auf dieser Welt. Das wurde ihm in großen Mengen plötzlich mit einem Schlag klar.

Und dieser Junge (Er weigerte sich, ihn einen Mann zu nennen), hatte es geschafft, ihn über diese Annahme nachdenken zu lassen.

Schließlich hatte er ihn bemerkt, wenn auch auf eine ziemlich herablassende Art, zumindest zu Anfang.

Gedankenverloren las Harry die Nummer auf dem Papier immer und immer wieder, so lange, bis er glaubte, sie beinahe auswendig zu kennen.

Er steckte die Karte zurück in seine Jackentasche und zog sie weiter zu. London konnte um diese Zeit so unendlich kalt sein, auch wenn man nur kurz am Fenster saß, um ein paar Zigaretten zu rauchen.

Er hörte ein müdes Stöhnen hinter sich und warf einen Blick durch das Zimmer, das nur von dem Licht der entfernten Straßenlaternen beleuchtet war. Eigentlich lag vor ihrem Fenster nur der Garten dieser seltsamen Einrichtung, in dem man - niemals, und unter keinen Umständen -, rauchen durfte.

Liam rieb sich müde den Schlaf aus beiden Augen und sah Harry so irritiert an, dass er kichern musste. „Was zur Hölle machst du da?"

Harry zuckte beide Schultern und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. „Ich konnte nicht schlafen."

„Du kannst nie schlafen."

„Herzlichen Glückwunsch, Sherlock."

Liam seufzte, stand auf und ließ sich auf der anderen Seite der Fensterbank nieder. Kommentarlos reichte Harry ihm die Schachtel mit den Zigaretten, die sie eigentlich gar nicht besitzen durften. Schließlich öffnete Liam die zweite Seite des Fensters und bat Harry um ein Feuerzeug.


Louis


Obwohl er versuchte zu schlafen, wollte das Ganze nicht so wirklich funktionieren. Der Fernseher lief zwar noch, und eigentlich beruhigte es ihn jedes Mal, wenn er nicht schlafen konnte, aber an diesem Tag wollte auch das nicht funktionieren.

Er stand auf, trank ein Glas Wasser, und legte sich wieder hin. Mit beiden Händen fuhr er sich über das Gesicht, kippte ein Fenster, schloss es wieder, schaltete den Fernseher aus und schaltete ihn wieder an. Frustriert raffte er seine Decke zusammen und sprang aus dem Bett.

Weshalb konnte er nicht aufhören, an diesen Jungen zu denken? Er war nur ein Heroinabhängiger, der nicht wusste, wie er sein Leben auf die Reihe bekommen sollte.


Harry


Liam sah Harry fragend an. „Hast du dir schon überlegt, was du machen willst, wenn du hier rauskommst?"

Er zuckte beide Schultern. „Ich glaube nicht, dass das sonderlich schnell gehen wird."

Liam stieß ein tiefes Seufzen aus. „Ich würde gerne mein Studium nachholen."

Ein Lächeln huschte über Harry's Gesicht. „Du hast die Mittel dazu."

Gedankenverloren blickte Liam in den Nachthimmel, der von den Lichtern der Stadt getrübt wurde. Er zog an seiner Zigarette und wand seinen Blick dem Boden zu.

Harry wusste, was er dachte. Liam war noch nie gut darin gewesen, Chancen zu nutzen. Seine Psyche legte ihm Steine in den Weg, die er allein nicht aus dem Weg räumen konnte. Ansonsten wäre er nicht hier - und das wussten sie beide.

„Hast du dir schon überlegt, ob du diesen Typ zurückrufst?"

Harry schüttelte seinen Kopf. „Ich weiß es nicht."

Ein bitteres Lachen drängte sich daraufhin aus seiner Brust. „Ich glaube, dafür brauche ich erst meine Dosis Methadon."

Liam schüttelte seinen Kopf. „Hast du wirklich noch nie darüber nachgedacht?"

„Worüber nachgedacht?"

„Nachgedacht darüber, was du danach machen willst."

Harry schüttelte seinen Kopf. „Das wird so schnell nicht passieren."

Und wieder huschte das Bild dieses reichen Schnösels in seine Gedanken, und er fragte sich, weshalb zur Hölle er ihn nicht aus seinen Gedanken bekam.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt