26. Halt die Klappe, Richie

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Harry

Nachdem er aus dem Badezimmer kam, ließ Harry sich kommentarlos auf dem Sofa nieder und schloss die Augen.

Verdammt, dachte er, Wie zur Hölle konnte das passieren?

Das schlechte Gewissen sickerte nur oberflächlich durch den Nebel des Heroins zu ihm durch. Er konnte die Gedanken spüren, er nahm sie wahr - aber sie störten ihn nicht weiter. Er war ruhig, zufrieden und nicht weiter niedergeschlagen. Es fühlte sich an, als hätte das Heroin einen warmen Mantel der Sorglosigkeit um ihn gelegt.

Er glitt in einen seichten, traumlosen Schlaf, nahm Louis' Frage, ob er denn Hunger hatte, gar nicht wahr. Selbst wenn er dies getan hätte, hätte er ihm wohl kaum eine Antwort gegeben. Dafür war er viel zu entspannt auf der einen Seite, und viel zu erschöpft auf der anderen.

Louis

Nachdem er nun hundertprozentige Gewissheit hatte, dass Harry wieder rückfällig geworden war, wusste er sich nicht mehr recht zu helfen. Wie sollte er mit ihm umgehen?

Er konnte ihn schließlich nicht in seinem Apartment einsperren und von ihm verlangen, dieses nicht mehr zu verlassen, bis er wieder zur Vernunft gekommen war - Sucht hatte nichts mit Moral zu tun. Sucht war keine Wahl.

Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Verdammt, verdammt, verdammt.

Er hörte Harry's Telefon klingeln. Vorsichtig zog er es aus dessen Hosentasche, auch wenn Harry in seinem Dämmerzustand ohnehin noch nicht einmal bemerkt hätte, wenn Louis neben ihm Kanonen abgefeuert hätte.

Richie stand auf dem Display. Wer zur Hölle war Richie?

Der Unbekannte legte schneller wieder auf, als Louis das erwartet hätte. Nur eine gefühlte Sekunde später blinkte das Display des Telefons allerdings wieder auf. Er hatte eine Nachricht hinterlassen.

„Selbstverständlich kann ich dir ein paar Gramm besorgen - aber wie willst du das denn bezahlen?"

Louis kochte vor Wut. Was zur Hölle wurde hier gespielt? Warum ließ Harry sich auf derart zwielichtige Typen ein? Was war nur in ihn gefahren?

Louis öffnete den Chatverlauf und überflog die einzelnen Nachrichten. Natürlich war ihm bewusst, dass er eigentlich Harry's Vertrauen in ihn missbrauchte und nicht unbedingt richtig handelte - aber welche Wahl hatte er ihm schon gelassen? Er sprach ja nicht mit ihm, und Louis hatte nicht die Absicht, ihm bei seinem nächsten Absturz zuzusehen.

Die erste Nachricht des Verlaufs stammte ebenfalls von Richie. „Danke, Alter, du hast mir echt den Arsch gerettet."

Louis zog beide Augenbrauen nach oben - redete man in einem solchen Ton mit seinen Freunden? Benutzte man wirklich derart vulgäre Ausdrücke, wenn man sich mit Menschen unterhielt, die einem am Herzen lagen? Oder bildete er sich das nur ein, weil er in einer Familie aufgewachsen war, die ihn für derartige Ausdrücke windelweich geprügelt hätte?

„Kein Problem."

Worüber hatten die beiden gesprochen? Weshalb um alles in der Welt hatte Harry diesem Richie aus der Patsche geholfen?

„Wenn du irgendwann meine Hilfe in einer ähnlichen Situation brauchst, lass es mich wissen."

Louis lachte genauso spöttisch auf, wie Harry es vermutlich beim Lesen der Nachricht getan hatte - auf solche Menschen konnte man sich nicht verlassen. Und das wusste Louis genau, obwohl er selbst nichts mit der Szene zu tun hatte.

„Nein, Danke, Richie. Das Gespräch hatten wir vor ein paar Jahren schonmal - außerdem bezweifle ich doch sehr, dass ich jemals in eine ähnliche Situation kommen werde. Ich habe zumindest so viel Rückgrat, meinen besten Freund nicht mit einer Überdosis Heroin in seiner eigenen Kotze liegen und sterben zu lassen."

Louis riss beide Augen weit auf. War das der Grund für das ganze Chaos in den letzten Tagen gewesen? War einer von Harry's früheren Freunden an einer Überdosis Heroin gestorben? Und vor allem - wie kam Harry dazu, irgendjemandem in dieser Situation zu helfen, wenn er doch angeblich gar keinen Kontakt mehr zu diesen Menschen hatte?

„So unglücklich hast du auf mich nicht gewirkt, als ich dir zum Dank einen Schuss angeboten habe."

Um Gottes Willen - für alles andere hätte Louis sich in seinem Kopf eine Ausrede einfallen lassen können, die er sich selbst so oft sagte, bis er sie tatsächlich glaubte; aber das? Das war ein eindeutiger Beweis dafür, dass dieser Richie für Harry's Rückfall verantwortlich war; zumindest zum Teil. Natürlich hatte jeder die Verantwortung für sich selbst, aber wer kam schon auf die hirnrissige Idee, einem ehemaligen Abhängigen Drogen anzubieten?

„Halt die Klappe, Richie."

Harry hatte ihm genau mit den Worten geantwortet, die Louis gerade im Kopf hatte - wie kalt musste ein Mensch sein, um zu einer solchen Handlung fähig zu sein? War das seine Absicht gewesen? Oder war er selbst zu zugedröhnt gewesen, um zu realisieren, was er tat?

Louis wusste es nicht. Und vielleicht wollte er es auch gar nicht wissen.

Er sperrte das Display des Telefons und steckte es wieder zurück in Harry's Hosentasche.

Was sollte er jetzt tun? Was war der nächste Schritt?

Vielleicht sollte er das Gespräch mit ihm suchen, wenn der Moment günstig war - aber wann würde das schon der Fall sein? Von nun an würde er wohl alles daran setzten, Heroin für den nächsten Schuss aufzutreiben; er würde ihn so schnell nicht mehr nüchtern zu Gesicht bekommen.

Er fluchte vor sich hin, während er krampfhaft nach einer Lösung für sein Problem suchte. Aber was konnte er schon tun?

Er war machtlos, und das wurde ihm besonders in diesem Moment klar. Er konnte nichts tun. Er war hilflos - und das war, was am meisten schmerzte. Er sah einen Menschen, den er liebte, leiden, konnte aber nichts dagegen unternehmen, weil ihn dessen Krankheit zu sehr im Griff hatte.

Während er diese Gedanken hegte, kam ihm eine ganz andere Idee - vielleicht sollte er in dem Wohnheim anrufen, in dem Harry gelebt hatte. Würden sie ihn zurücknehmen? Würden sie ihm sagen können, was er tun sollte? Würden sie ihm zumindest ein kleines bisschen weiterhelfen können?

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt