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Tw! Erwähnung von Gewalt, Erwähnung von Selbstverletzung und depressiven Verhaltens!

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Ein halbes Jahr später ...

Blaine's Pov:

Die Verzweiflung im Blick des Jungen, in welchen mein Bruder sich Hals über Kopf verliebt hatte, war kaum zu ertragen. Nichts würde mehr wie früher werden, vorallem nicht, wenn er jetzt aufgab. Luce tat mir extrem leid. Er hatte nichtmal das Haus seiner Eltern betreten müssen, um zu erfahren, wie schmal die Grenze zwischen Leben und Tod war. Doch wie er nunmal war, war er nicht dankbar oder froh, dass er noch lebte. Ebenfalls musste er mit seinem nahezu zertrümmerten Knie weitermachen. Dazu kam Physio- wie Psychotherapie, bevor er gegen seine Eltern aussagen musste. Ob er sein Abi unter diesen Umständen überhaupt schreiben durfte, wussten wir nicht. Seine drecks Schule äußerte sich dazu nicht, was ihn zusätzlich unter Druck setzte.

Er lebte bei uns, da er seit etwas mehr als zwei Monaten achtzehn war, und damit nicht mehr in ein Kinderheim kommen könnte. Und um ehrlich zu sein hatte ich darauf bestanden, dass er nicht irgendwo anders hinging. Er war wie ein zweiter kleiner Bruder für mich, während er mich gleichzeitig ein wenig unterstützte, da er einen Blick auf die Kleinen haben konnte. Dadurch, dass ich nicht wusste, wie es ihm woanders ergehen würde, hatte ich ihn förmlich gezwungen, zu uns zu ziehen. Nate's Zimmer würde sowieso leer bleiben. Außerdem lebte mein kleiner Bruder gerade sein Leben, während Luce Probleme hatte, und irgendwie war Nate's Verhalten ignorant. Er wusste, dass Luce schwer verletzt - durch seinen Vater - gewesen war und doch hatte es ihn nicht interessiert. Langsam fragte ich mich echt, wer ihm dieses Verhalten vererbt hatte.

»Blaine? Kannst du mir die Milch rübergeben?«, fragte Cynthia und ich schob sie ihr stumm über den Tisch. Melli rannte durch die Wohnung, seitdem sie aufgegessen hatte, während Luce und Cynthia mit mir am Tisch saßen. Der Junge war komplett unterernährt, da man inzwischen kaum mehr eine komplette Mahlzeit in ihn hinein bekam, doch ich konnte nichts machen. Er weigerte sich zu essen, was mir nur noch mehr sorgen machte. Der Kleine war mir irgendwie ans Herz gewachsen - so wie einem die Geschwister ans Herz wachsen konnten.

»Luce, trink doch bitte wenigstens deinen Kaffee. Bitte, langsam mache ich mir Sorgen um dich, dass du demnächst umkippst, weil du unterernährt bist.« Abwesend nickte er, schob seine Kaffeetasse näher zu sich, beließ es aber auch wieder dabei. Diese blauen Augen waren leer und schienen dunkler als zuvor. Jede Lebensfreude, jede Motivation, alles war weg, ausgelöscht. Der alte Luce existierte nicht mehr, dafür hatten wir jetzt ihn. Er reagierte nichtmal mehr gereizt, wenn man ihn mit seinem vollen Namen ansprach. Auf nichts reagierte er wirklich. Manchmal auf Melli, auf Tiere oder Nachrichten beziehungsweise alte Bilder. Bilder von Nate waren so ziemlich das Einzige, was ihn manchmal zum schmunzeln brachte. Sonst hielten sich seine Emotionen nahezu immer versteckt, als ob sie nicht mehr existieren würden.

Schließlich hoben seine schmalen Hände doch die Tasse an seine Lippen und er nahm ein paar Schlucke von dem Kaffee, bevor er die Tasse zurück auf den Tisch stellte. Sein Blick haftete an einem unbestimmten Punkt an der Wand hinter mir und ich seufzte leise. Was sollte ich nur mit ihm machen? Er war verzweifelt, da die Ärzte gesagt hatten, dass er vermutlich nie wieder ohne Unterstützung und Schmerzen laufen, geschweige denn Autofahren könnte. Und damit war alles, was er jemals machen konnte, um sich selbst zu entkommen, wie durch Zauberhand einfach verschwunden.

»Ich gehe ins Bad« Meine Schwester stand auf, ging aus der Küche und ließ uns damit alleine. Luce's Blick kreuzte meinen und das erste Mal seit Wochen hatte ich das Gefühl, dass er mich fokussierte und nicht durch mit hindurch sah. Vorsichtig lächelte ich und sah ihn an. Das er nicht reagierte, war ich irgendwie schon gewohnt.

»Wie geht es dir heute?« »Hab ich jetzt nen neuen Therapeuten?« Sein trockener Humor war zwar geblieben, doch wurde nichtmal mehr von einem neckenden Blick begleitet, weshalb es keinen Spaß mehr machte, mit ihm darüber zu lachen oder zu diskutieren. Vielleicht war dies auch sein Ziel? Vielleicht hatte er Angst, zu diskutieren und das Erlebte zu wiederholen, nur mit einer anderen Person? Gott, dieser Junge war traumatisierter als Nate, Cynthia, Mama und ich.

»Ich hab keine Ahnung. Ich bin ... leer.« Seine Stimme war rau und leise, als er schließlich doch antwortete und ich nickte verstehend. Leer. »Le vide peut te tuer«, hatte Nate immer gesagt. Es bedeutete so viel wie »die Leere kann dich töten«. Es bezog sich damals darauf, dass er irgendwas fühlen wollte, und Verletzungen genau dies taten. Also verletzte er sich, genauso wie ich es tat. In dieser Hinsicht war ich das schlechteste Vorbild gewesen.

»Hast du vielleicht Lust irgendwas zu unternehmen, wenn ich die anderen zur Schule gebracht habe? Von mir aus können wir in den Park oder so, Hauptsache raus.« Kurz fiel sein Blick auf die Tischplatte, dann sah er mich wieder an. »Egal wohin?« Ich nickte. »Egal wohin.« »Können wir in den Wald?« Ich nickte lächelnd, er sah mich ausdruckslos an. »Gerne.«

Ich half Melli in ihre Schuhe und ihre Jacke zu schlüpfen, bevor ich Luce ein »bis gleich und stell nichts Dummes an«, zurief, und die beiden zur Tür raus scheuchte. Wie immer waren wir spät dran, doch Melli kam überpünktlich und bei Cynthia war es nicht so schlimm, wenn sie zu spät kam. Dadurch, dass sie jetzt Lernzeit hatte - was relativ wenig Sinn ergab, aber es war schon okay -, musste sie immerhin nicht sprinten.

Mit einem »je t'aime« verabschiedete ich auch sie, und leicht lächelnd wünschte sie uns einen schönen Tag. Als sie durch den Eingang ihrer Schule trat, startete ich den Motor, sah ihr ein letztes Mal nach und fuhr vom Schulparkplatz. Cynthia führte ein relativ gutes Leben, und ich hoffte, dass der Schein bei ihr nicht trügte.

Als ich zurück Zuhause ankam, war es still. Eigentlich war es immer still, wenn Luce alleine hier war. Nichtmal den Fernseher oder das Radio hatte er jemals angemacht, seitdem er hier praktisch wohnte. Doch es besorgte mich trotzdem jedes Mal aufs Neue, wenn es still war. Zum Glück hatte ich einen freien Tag heute, da mein Chef in letzter Zeit im Urlaub war und wir genug Arbeitskräfte hatten. Mein Vertrag im Drogengeschäft lief zum Glück langsam aus, und verlängern wollte ich ihn nicht wirklich. Dadurch, dass ich als Kellner gearbeitet hatte, könnte ich auch einfach wieder darin einsteigen, was mir genug Geld bringen würde, solange meine Mutter nicht da war. Doch sie kam auch wieder häufiger nach Hause, was mich ziemlich freute, um ehrlich zu sein.

Ich ging ins Wohnzimmer, sah den Jungen, dem es in letzter Zeit vermutlich am Schlechtesten von uns allen ging, und lehnte mich in den Türrahmen, während ich ihn beobachtete. Er war hübsch, aber absolut nicht mein Typ. Vielleicht sollte ich mir auch mal langsam wieder einen Freund suchen?

Luce humpelte durch den Raum, während er sich auf eine seiner Krücken stützte. Er kam relativ gut damit zurecht, mit einer Krücke zu laufen, ohne sich wie ein Idiot anzustellen. Doch langsam aber sicher verlor er den Willen, überhaupt noch zu laufen, weshalb ich ihn erst recht nach draußen bringen wollte. Sein Lebenswillen war genauso wenig vorhanden, wie die Motivation irgendwas zu tun. Ich konnte verstehen, wie schwer es sein musste, sich von so einem Vorfall zu erholen - und dasselbe Verständnis hatte ich von Nate erwartet -, doch das er nun nicht aufgeben sollte, wussten wir beide genauso. Also ging ich zu ihm.

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Ich hoffe, dass dieses Kapitel euch gefällt und entschuldige mich direkt dafür, dass die nächsten Kapitel eher trauriger sein werden. Trotzdem würde ich mich über einen Vote und einen Kommentar freuen und wünsche noch einen wunderschönen Tag👋

You'll Lose In Love | Boy×BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt