1. Prolog

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Erik

Es regnete in Strömen als ich beschloss, aufzubrechen. Auf dem Parkplatz wütete ein Sturm und Wolken hatten den Himmel bedeckt. Vor dem Edeka in der Freiburger Innenstadt war es menschenleer, die Uhr meines Handys zeigte 2:32 morgens. Ich begann zu frieren, sprang von dem grauen Einkaufswagen, auf dem ich stundenlang gesessen hatte und lief unter dem Vordach hervor, unter dem die Einkaufswagen standen. Das Licht des großen „EDEKA"-Schildes, dass über der Eingangstüre zum Supermarkt leuchtete, und eine kaputte Straßenlaterne waren die einzigen Lichtquellen in dieser dunklen, verregneten Nacht. Vor mir, auf dem Boden lagen zertretene, zerrissene Zeitungsstücke, die vom Regen aufgeweicht waren. Glücklicherweise war mein Vater damit einverstanden, dass ich später nach Hause kam. Er war in solchen Situationen wesentlich entspannter als meine Mutter, doch heute Nacht war sie nicht zuhause. Sie hatte Nachtdienst. Ist aber auch verständlich, wenn man bei der Polizei arbeitet. Eigentlich sollte ich seit ein paar Stunden schlafen sollte, ich hatte es dringend nötig, denn morgen war leider wieder Schule. Langsam ließ ich mich nach vorne fallen und stand vor dem Einkaufswagen. Dann trat ich den Nachhauseweg an. Es war schön gewesen, etwas allein zu sein. Das blaue Licht, das den Parkplatz erhellte trieb mir eine Träne in die Augen. Ich wollte nicht in die Schule! Ich wollte nicht mehr an den Ort, an dem ich wusste, dass ich mich dauerhaft schlecht fühlen würde! Doch ich musste, leider.

Plötzlich knackte es hinter mir. Ich drehte mich blitzartig um, ich spürte ein mulmiges Gefühl. Der Parkplatz schien menschenleer. Ich sollte abhauen, was würde meine Mutter denken, sollte ich wirklich hier erwischt werden? Doch irgendetwas hielt mich davon ab. War es die Angst vor morgen? Ich zog meinen grünen, warmen Kapuzenpullover enger und schlich vorsichtig über den Parkplatz. Da, ich hörte erneut ein Geräusch. Diesmal war es lauter. Ich blickte mich erneut hektisch um. Wieder durchströmte mich die Angst. Und dieses Mal hatte ich weniger Glück. Eine große, etwas dickere Gestalt stand am anderen Ende des Parkplatzes. Der Mann trug eine orangene Warnweste und eine schwarze Hose. Neben dem Mann stand ein großer, gefährlich aussehender Hund, der im Licht der Taschenlampe des Mannes schrecklich gruselig und wütend aussah. Scheiße, was mache ich jetzt?! Plötzlich hörte ich die Stimme eines Mannes über den Parkplatz dröhnen. „Gehst du von selber, oder muss ich dich mit der Polizei heimbringen?!" Panik durchströmte meinen Körper, ich konnte nicht antworten und lief schneller, dann begann ich zu rennen, als ich weit genug entfernt war rief ich: „Bin schon weg, sorry."

Ich ging die verregnete Straße entlang. Die Freiburger Innenstadt wirkte ungewöhnlich ruhig. Nach ein paar Minuten hat der Regen aufgehört. Mist, schon 3:00 Uhr! Noch 3 Stunden, dann würde die Zeit beginnen, die bei mir seit Wochen die größte Angst ausgelöst hatte. Vielleicht hatte ich deshalb so lange gewartet nach Hause zu gehen. Ich wollte nicht in die Situation kommen, allein in meinem Zimmer in meinem Bett zu liegen und zu versuchen zu schlafen, wobei das sowieso nicht möglich gewesen wäre. Ich ging etwas zügiger. Es wurde immer kälter, ich begann zu frieren. Trotzdem, dann lieber auf dem Parkplatz, allein mit dem Regen sein und versuchen etwas von dieser schrecklichen, bevorstehenden Zeit der Kursstufe zu vergessen.

Ich war an unserem Haus angekommen. Wir wohnten in einer mittelgroßen Wohnung in der Innenstadt. Vorsichtig, um niemanden zu wecken schloss ich die Türe auf, wischte mir das Wasser aus den Augen, dass nicht nur vom Regen gekommen war und beschloss, wenigstens die 3 Stunden Schlaf, von denen ich noch ungefähr eineinhalb wegen der Angst vor der Schule abziehen musste, zu nutzen. Ich lief durch den Flur und warf meine Jacke auf den Kleiderstapel neben der kleinen Garderobe. Mein Vater schlief bereits als ich mein Zimmer betrat. Ich hatte kein besonderes Zimmer, das typische Klischee des Zimmers eines 16-jährigen Jungen, der nur Partys und Feiern im Kopf hatte. Doch ich stand nicht auf Partys, Alkohol und Feiern. Im Gegenteil, wenn meine Mitschüler in der Schule darüber diskutierten, bei wem sie dieses Wochenende Feiern gehen sollten, stand ich immer ratlos daneben. So etwas überfordert mich dann immer massiv. Ich blickte in den Spiegel, der an meiner Wand hing. Meine Haare waren wie immer verstrubelt und hingen etwas ins Gesicht. Niemand konnte in dem Moment nachvollziehen, was ich fühlte, und niemand aus der Schule wusste, warum ich Regenbogenflaggen trug und liebte, und niemand sollte es erfahren, der nicht damit ohne Vorurteile damit umgehen konnte. Denn die Vorurteile hatten dafür gesorgt, dass ich in den letzten Jahren kaum mit jemanden über meine Identität gesprochen hatte, obwohl es oft dringend nötig gewesen wäre. Ich setzte mir als Aufgabe für morgen, besser gesagt für die nächsten zwei Jahre Kursstufe meine Identität so gut wie es nur irgendwie möglich war vor den anderen zu verstecken. Mittlerweile war es 3:15 Uhr und ich beschloss, mich hinzulegen. Immer wieder lief die Szene der letzten Stunde in meinem Kopf ab. Wenn ich die Augen schloss, sah ich genau wie der Sicherheitsbeamte mit dem Hund vor mir stand. Und wieder einmal fragte ich mich: wieso wurde ich so wenig akzeptiert?

Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt