Wegweiser

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Am nächsten Tag waren meine Eltern wieder nicht da. Sie hatten etwas zu besprechen, hatten sie gesagt. Also war ich alleine zuhause. Nur Skylar war bei mir. Sie lag in ihrem Körbchen neben dem Sofa und schlief. Ihr weißes Fell bewegte sich ruhig auf und ab, ihre langen Ohren hingen schlapp über ihrem Kopf und sie atmete ruhig. Neben ihr saß ich auf dem Sofa und war mit meinem Handy beschäftigt. Ich wischte durch meine for-you-page auf Instagram, wonach ich suchte, wusste ich nicht. Ein Sonnenstrahl blendete mich und ich blickte kurz auf. Draußen ging gerade die Sonne unter, es war noch angenehm warm und die Sonne malte wunderschöne Bilder an den Horizont. Ich legte mein Handy weg, stand auf und lief zu dem großen Wohnzimmerfenster, durch das man in die Innenstadt blicken konnte. Es fühlte sich seltsam an, hier in unserer Wohnung zu sein, an diesem Ort, wo ich von meinen Eltern so oft nicht verstanden worden war. Mittlerweile fühlte ich mich hier sogar unwohl, wenn meine Eltern nicht zuhause waren. Ich wollte die Wohnung verlassen, doch ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Mit Skylar war ich bereits draußen gewesen, sie brauchte für heute keine Bewegung mehr.

Dann machte es „Klick" in meinem Kopf. Ich wollte mein Leben in die Hand nehmen.

Ich drehte mich um und lief zügig in den Flur zur Garderobe. Schnell schlüpfte ich in meine Schuhe, zog einen Pullover an, der auf dem Boden bei der Garderobe lag und griff in die Schlüsselschale auf dem kleinen Schrank, um meinen Schlüssel mitzunehmen. Vorsichtig zog ich die Türe zu.

Ich lief einfach los, ohne zu wissen, wohin ich lief. Doch es fühlte sich irgendwie richtig an. Die Sonne neigte sich immer mehr dem Horizont zu und färbte den Himmel in einem wunderschönen Rot. Ein angenehmer Wind wehte durch meine Haare und ich war seit langer Zeit endlich einmal wieder glücklich, obwohl ich alleine war. Ich lief durch die Innenstadt, durch viele Gassen und Straßen, vorbei an Restaurants und Geschäften, die gerade dabei waren, ihre Türen zu schließen. Wohin ich lief, wusste ich immer noch nicht, ich lief einfach weiter und es fühlte sich richtig an. Einige Zeit später näherte ich mich der Dreisam und erkannte einige Familien mit Kindern, die fröhlich im Wasser spielten. Sie schienen glücklich und planschten ausgelassen im Wasser. Ich musste lächeln und beschloss, mich auf einen Stein zu setzen, der aus dem Wasser des Flusses ragte. Ich streckte eine Hand aus und ließ sie in das Wasser baumeln. Das Wasser war durch die Sonne angenehm aufgewärmt und fühlte sich lauwarm an. Es war ein schönes Gefühl, hier zu sitzen und dem Wasser beim Plätschern zuzuhören. Plötzlich streifte etwas Weiches meinen Fuß. Ich wandte meinen Blick vom Wasser ab und blickte neben mich auf den Boden, um nachzusehen, was mich gerade berührt hatte.

Neben mir, auf dem weichen Graß, dass neben dem Wasser wuchs, saß eine kleine, schwarze Katze und blickte mich erwartungsvoll an. Ich lächelte und streichelte ihr kurz über den Kopf. Die Katze schloss die Augen und begann zu schnurren. Ich wandte meinen Blick wieder ab, in Richtung des Flusses. Doch die Katze ließ nicht locker. Sie stupste mich erneut an, miaute laut und deutlich und lief unruhig vor mir auf und ab. Ich drehte mich wieder zu dem kleinen, süßen Tier um und streichelte die Katze erneut. Die Katze ließ sich lange von mir streicheln, sie begann zu schnurren und schloss erneut die Augen. Doch dann passierte etwas äußerst Merkwürdiges. Die Katze bewegte ihren kleinen, weichen Kopf in Richtung meiner Hose, dann zog sie mit ihren kleinen Zähnchen an meiner Jeans, wie wenn sie versuchen würde, mich zu irgendetwas zu bewegen. „Was möchtest du?", fragte ich die Katze, irritiert und neugierig zugleich.

Doch das Tier antwortete logischerweise nicht, sondern zog nun stärker als zuvor an meiner Hose. Schließlich setzte sich die Katze neben mich und miaute ein paar Mal eindringlich und laut. Nun verstand ich: das Tier wollte mir etwas zeigen. Eigentlich hielt ich nichts von übernatürlichen Dingen, von Fantasy-Geschichten, in denen magischer Tiere anderen Figuren den Weg weißen würden. Eine Katze, die mir den Weg weißen wollte? Träumte ich? Doch ich hatte gerade sowieso nichts zu tun, weswegen ich aufstand und die Katze erneut betrachtete. Außerdem hatte ich immer noch keinen Plan, was und wohin ich heute Abend wollte. Ich konnte schließlich jederzeit umdrehen, sagte ich mir. Langsam setzte sich die Katze in Bewegung und ich folgte ihr.

Wie froh ich doch war, dass ich der Katze gefolgt bin.

Seltsamerweise führte mich die Katze genau den Weg zurück, den ich zuvor gegangen war. Wir liefen an denselben Restaurants, an denselben Läden, die mittlerweile geschlossen waren, vorbei, durch dieselben Straßen, die ich vor einer halben Stunde durchquert hatte. Scheinbar wusste die Katze genau, wo sie hinwollte. Und ich folgte ihr, planlos, aber mit Vertrauen, dass die Katze schon wissen würde, wohin sie mich führte. Wenige Minuten später waren wir in der Innenstadt angekommen. Noch immer lief die Katze zielstrebig voran, das Tier wirkte aufmerksam und konzentriert. Ab und zu, wenn eine Straßenbahn oder ein gestresster Fahrradfahrer durch die Innenstadt sauste, hielt die Katze kurz an und machte den Weg frei, um nicht überfahren zu werden. Die Menschen müssen mich wohl für verrückt gehalten haben, das sagten zumindest die Blicke der Personen, die sich an diesem Abend noch in der Stadt aufhielten und betrachteten, wie ein Jugendlicher einer schwarzen Katze hinterherlief. Doch die Katze lief selbstbewusst und sicher weiter. Wir bogen um die Ecke beim Bertholdsbrunnen und nun erkannte ich den Hauptbahnhof. Die Katze lief nun schneller, als dürfte sie etwas Wichtiges auf keinen Fall verpassen und auch ich legte einen Zahn zu und folgte der Katze auf die schräge Ebene, die zur Brücke über den Gleisen führte. Ich habe bis heute nicht begriffen, woher die Katze das wusste, warum sie das tat und woher sie kam, doch das Tier lief zielstrebig auf die Treppe zu, über der auf einer blauen Plastiktafel in weißer Schrift eine große „5" stand. Nun verstand ich! Die Katze wollte mich auf das Gleis 5 führen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang die Katze die Treppe hinunter, sie schlängelte sich zwischen Menschen durch und wurde mehrmals fast zertreten, doch sie rettete sich immer im letzten Moment, wich aus, hielt kurz an und lief dann schnell wieder weiter. Nun erkannte ich den Zug, eine gelbe S-Bahn, die auf Gleis 5 stand. Die Katze lief nun direkt auf den Zug zu. Ich las die Aufschrift auf dem Zug, die mir sagte, dass der Zug in Richtung Elzach fuhr. Nun verstand ich endgültig, worauf die Katze hinauswollte. Als hätte sie ihr Ziel erreicht, als hätte sie ihren Auftrag erfüllt blieb die Katze vor der Türe des Zuges stehen und blickte mich erwartungsvoll an. Vorsichtig kniete ich mich neben die Katze und streichelte ihr behutsam über den Kopf.

„Danke", flüsterte ich.

Die Katze blickte mich wartend an. Ich richtete mich wieder auf, blickte ein letztes Mal auf das Tier, dann öffnete ich die Türe des Zuges und stieg ein. Der Zug fuhr langsam los und ich blickte der Katze, die ruhig auf dem Bahnsteig saß noch so lange nach, wie ich konnte. Dann, als der Zug den Bahnsteig verließ, verlor ich sie aus den Augen.

Eine Viertelstunde später klingelte ich bei Lola.
Die Türe vibrierte und ich stand im Treppenhaus.

Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt