48. Freunde

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Am selben Abend stieg ich in den Zug, der Richtung Elzach fuhr, um bei Lola auszusteigen und mit den anderen auf dem Dach des Hochhauses, in dem er wohnte, zu picknicken. Mit meinem Skateboard, ein paar Keksen, die ich für den Picknick mitbringen sollte, und meinen Kopfhörern, die ich mir um den Hals gehängt hatte, fuhr ich über die schräge Ebene, die zum Bahnhof führte. Ich stoppte mein Skateboard, nahm es in die Hand und sah mich um. Die Bahnhofshalle wurde vom Abendlicht rot erleuchtet, für einen kurzen Moment erinnerte es mich an den Moment, in dem ich auf der Brücke stand und aufgeben wollte. An den Moment, in dem ich mir gewünscht hatte, dass alles vorbei wäre. Doch ich hatte nicht aufgegeben und immer wieder in diesen Tagen spürte ich, wie froh ich darüber war. Die S-Bahn fuhr ein und ich stieg in den Wagen.

In Herdern angekommen stieg ich aus und lief auf Lolas Haus zu. Ich sah das große Hochhaus schon vom Bahnhof. Das Haus hatte ein flaches Dach, auf dem man im Sommer sitzen konnte. Und auf dem Dach war die Sternwarte, unser gemeinsamer Ort. In der Ferne sah ich ein paar Leute auf dem Dach. Das mussten meine Freunde sein. Ja, das waren sie.

Lola hatte die Türe angelehnt. Ich öffnete sie und betrat den Flur. Vorsichtig kletterte ich durch die Leiter zur Sternwarte und öffnete die Luke. Langsam erklomm ich eine Stufe nach der anderen und betrat das Dach. Dort saßen sie alle. Lola, der sofort auf mich zukam und mich umarmte, und Mike, der mich gerettet hatte, schnell seine Kopfhörer aus den Ohren riss und mich mit einem Handschlag begrüßte. Leni, seine Freundin, saß neben ihm und lächelte mir zu. Lilly, die mir so unglaublich viel geholfen hatte. Alle waren da und das machte mich überglücklich. Wir umarmten uns alle. Dann setzten wir uns in einen Kreis und legten unsere Snacks in die Mitte. Lolas Mutter, eine kleine, stämmige Frau mit braunen Haaren und einer kleinen, geflickten Wollmütze, hatte uns Kuchen gebacken, den wir nun aßen. Ich hatte Lolas Mutter davor noch nie gesehen, doch Lolas Beschreibung passte genau auf sie: streng, aber freundlich und nett. Aus Mikes JBL-Box lief leise deutscher Indie-Pop und in der Ferne ging die Sonne nun unter.

"Tja, jetzt haben wir es fast geschafft. Ich bin soweit mit den Klausuren durch," sagte Mike in die Runde.
"Wie sieht es bei euch aus?" fügte er hinzu.
"Ich muss noch Sport nachschreiben," sagte Leni genervt. "Ansonsten hab ich es auch schon geschafft."
"Bah, Sportklausur würde mir jetzt brutal stinken," sagte Mike und grinste frech.
Leni sprang auf und boxte ihn in die Seite.
"Ey!" schrie Mike und lachte.
"Ich hab nur gesagt, dass es mir stinken würde! Vielleicht hast du ja Bock darauf?" sagte er lachend.
Leni versetzte ihm einen weiteren Stoß und blickte ihn böse, aber gleichzeitig liebevoll an.
"Nein, ich mach nur Spaß," sagte er und umarmte seine Freundin.
Leni lächelte.
"Ich weiß, alles gut," sagte sie.

Ein paar Stunden später war es dunkel geworden. Wir hatten unsere Handytaschenlampen unter ein paar Gläser gelegt und sie somit als Lampen umfunktioniert. Das Licht warf Schatten auf den Boden, man hörte die Grillen ihr abendliches Konzert zirpen. Auf dem Boden standen Bierflaschen, Coladosen und geöffnete Chipsverpackungen. Lola hatte sich an mich gekuschelt und atmete ruhig ein und aus. Mir gegenüber saß Lilly, die immer wieder fragend zu uns herüber grinste. Ich musste lächeln und Lola hob vorsichtig den Kopf.
"Was ist?" fragte er.
"Nichts, alles ist gut," sagte ich und strich ihm über die Haare.
Die anderen auf dem Dach hatten nun alle ihre Blicke auf Lola und mich gerichtet und ich war mir verdammt unsicher, ob es für Lola okay wäre zu sagen, dass wir zusammen sind. Auch er hatte mittlerweile die Blicke bemerkt, die auf uns gerichtet waren.

Er blickte mich fragend an, ich nickte, und...

...er nickte auch.

"Ja," sagte ich in die Runde. "Wir sind zusammen."
"Awww," sagten die anderen und Lilly stand auf und umarmte uns beide.
"Das ist voll schön," sagte sie.
"Danke, Lilly," sagte Lola und lächelte. Er schien richtig glücklich.

Eine Freudenträne kullerte über meine Wange. Ich hatte, nach einem Jahr, endlich Freunde gefunden, die mich akzeptierten. Endlich. Ich war nicht mehr abhängig von Menschen, die mich skeptisch und misstrauisch beäugten, nur weil ich nicht so war wie alle anderen. Wir saßen da und erzählten uns, was wir in den letzten Wochen erlebt hatten, bis weit nach Mitternacht. Jeder erzählte seine eigene, ganz besondere Geschichte, und jeder hörte den anderen zu. Und vor allem – niemand verurteilte irgendjemanden.

Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt