17. Outing

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Anna schloss die Tür auf, sie hängte ihre knallgrüne Lederjacke an die Garderobe, zog ihre gelben Snickers aus und sagte zu mir: „Leg dein Zeug einfach irgendwo hin. Hier ist eh Chaos." Ich nickte. Die kleine Wohnung sah tatsächlich chaotisch aus aber gleichzeitig irgendwie schön. Neben einer winzigen, mit Geschirr vollgestellten Küche, in der gerade mal 2 Personen Platz hatten, bestand die Wohnung aus einem Bad, einem Schlafzimmer und zwei Kinderzimmern. Im Flur standen etliche Kartons, voll mit Spielsachen. Auf den Kartons klebten jeweils Schilder, auf denen die Aufschrift „Zu verschenken", geschrieben war. Anna legte ihren Schlüssel neben die Garderobe, dann rief sie: „C'est moi (Ich bin's)", und bedeutete mir, ihr in ihr Zimmer zu folgen. „Sprecht ihr französisch zu Hause?", fragte ich.
„Ja, mein Vater kommt aus Frankreich." Ich nickte und musste mir gleichzeitig eingestehen, dass ich kein einziges Wort Französisch verstand, trotz dass ich das Fach in der Oberstufe nicht abgewählt hatte. Anna verstand ich jedoch komischerweise sehr gut. „Ist irgendwie cool, wenn jemand Französisch sprechen kann", sagte ich, während ich mich umsah. „Kannst du's denn nicht? Du hast's doch nicht abgewählt, oder?", fragte sie. „Ne, aber ich versteh um ehrlich zu sein kaum etwas", gab ich zu und schloss schnell die Türe hinter mir. Anna setzte sich auf ihr Bett, ich setzte mich neben sie. „Und deine Mutter?" „Die kommt aus Finnland", meinte Anna. „Ah okay cool!", sagte ich. Sie nickte, dann zog sie ihren Pulli aus und warf ihn auf den kleinen Holzstuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand. Mein Blick fiel auf ihre blaue Jeans, und auf ihr buntes T-Shirt, auf dem eine kleine Regenbogenflagge zu sehen war. Anna sah so hübsch aus. Ich spürte wieder, das warme Kribbeln im Bauch, das selbe Gefühl, dass ich gespürt hatte als ich Anna das erste Mal gesehen hatte. „Cool sieht's hier aus!", sagte ich schnell, um die Stille zu durchbrechen. Sie nickte und sah sich um. „Ja, ein bisschen chaotisch...", meinte sie. Sieht bei mir nicht anders aus", entgegnete ich. Sie lachte. Ich blickte mich um, und sah, dass auf dem Boden etliche Bücher, sowie Comics und Zeitschriften lagen. An der grünen Wand hing zwischen etlichen Bildern von Freunden eine Regenbogenflagge. Das Fenster, dass etwas Licht in den Raum warf, führte zum Balkon. Anna griff neben sich und knipste die runde, kleine Lampe an der Decke an. Auf ihrem Schreibtisch lagen etliche Pinsel, Stifte, angefangene Bilder und Bastelwerkzeuge. Neben den Pinseln lag eine leere Schachtel Aspirin-Tabletten. Einen Spiegel gab es nicht, auch keine Schminksachen, sie schminkte sich wohl nicht. Anna war auch ungeschminkt wunderschön. „Ich mag die Flagge,", sagte ich und zeigte auf die Wand. Anna blickte lange auf die Regenbogenflagge, dann sagte sie leise: „Ich auch". Während sie das sagte, wanderten ihre Mundwinkel nach oben und zauberten ihr ein wunderbares, süßes Lächeln auf ihr Gesicht. Für einige Sekunden blickten wir uns tief in die Augen. Ich glaubte mich in ihren Augen zu verlieren, so weich und warm war ihr Blick. Es war fast still im Raum, nur das Geräusch des Ventilators neben dem Bett war zu hören. Und dann zerriss die Stille. „Okay, eigentlich wollten wir aber für Wirtschaft lernen.", sagte sie, stand auf und lief zu ihrem Schreibtisch, wo sie einen Collageblock holte und sich wieder zu mir aufs Bett setzte. „Achso, ja stimmt", sagte ich und schüttelte den Kopf. „Dann lass uns mal loslegen.", murmelte ich während ich ebenfalls meinen Block aus der Tasche holte.

Was war los mit Anna?
Warum hatte sie das gemacht?

„Was lernst du denn genau?", fragte ich und begann die unzähligen losen Blätter zu sortieren. „Also wir hatten ja das Thema Gesellschaft. Und dazu würde ich lernen, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist und wie sie funktioniert...", sagte sie. Sie hielt inne. „Findest du nicht auch, dass es voll krass ist, wie sehr die junge Generation sich für die ältere Generation einschränken musste? Also während Corona meine ich, und wie sehr jetzt die ältere Generation sich überhaupt nicht für die Interessen der jungen Generation interessiert?", sagte sie auf einmal. „So oft werden wir als faul und rücksichtslos abgestempelt, als die faule "Jungend von heute", aber in Wirklichkeit haben wir unseren Großeltern während der Pandemie geholfen, in dem wir uns an die Regeln gehalten haben.", fuhr sie fort. Ich nickte entschlossen. Es gibt natürlich immer Menschen, die sich nicht an solche Regeln halten, aber die Mehrheit von Menschen, die ich kenne, war rücksichtsvoll gegenüber der Risikogruppe.", ergänzte sie. Sie hatte so verdammt Recht! „Ja, total! Ich finde vor allem, dass es voll krass ist wie sehr wir uns an die Regeln der Politik gehalten haben und jetzt zerstört die Politik, vor allem beim Klima, unsere Zukunft! Also so kann es ja nicht weitergehen, wenn die Politik so weitermacht, und nicht endlich mehr Klimaschutz betreibt, dann hat unsere Generation keine Zukunft mehr!", antwortete ich. „Ich verstehe vor allem nicht, wie man so wenig auf die Wissenschaft hören kann. Ich meine, es ist doch offensichtlich, wie dringend es ist zu handeln und allein schon die Tatsache, dass Tausende Jugendliche Freitags auf die Straße gehen, um für den Klimaschutz zu demonstrieren, das zeigt doch wie wichtig es vielen aus unserer Generation ist, das Klima zu retten.", sagte sie. Ich nickte. "Nur leider ist es für die Entscheidungsträger häufig egal, Anna. Sie werden die Folgen des Klimawandels nur noch in ihren Anfängen miterleben, wir noch viel mehr...", sagte ich und lehnte mich gegen die Wand. Es herrschte wieder einige Sekunden Stille. 

Dann beschloss ich sie zu fragen, was ich seit Wochen überlegte sie zu fragen. 

„Anna?" „Ja?", sagte sie und drehte sich etwas in meine Richtung. „Warum hast du so viele Regenbogenflaggen, in deinem Zimmer, auf deiner Kleidung, einfach generell? Weil ich finde das voll cool... Und das wollte ich dir kurz sagen.", sagte ich. Sie lächelte, überlegte kurz dann antwortete sie: „Also ich kann es dir sagen, aber versprich mir bitte, dass du es niemandem weitererzählst, okay? „Klar, versprochen", sagte ich und setzte mich ein kleines bisschen näher zu ihr. Vorsichtig legte ich meinen Arm um sie. Sie akzeptierte die Umarmung und lächelte, dann legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. „Ich habe ganz lang nicht gewusst, wer ich eigentlich bin. Und ich hab viele Jahre gebraucht um zu verstehen, dass ich anders bin als die meisten Menschen in meinem Leben. Ich bin nämlich nichtbinär, also weder männlich noch weiblich. Und ich habe ganz lange nicht verstanden, warum das so ist. Aber es ist einfach okay. Jeder Mensch ist anders und niemand muss sich in eine Kategorie einordnen lassen. Man darf anders sein." Ich lächelte. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen, legte meinen Arm etwas enger um sie und sagte: „Ich bin auch nichtbinär.", sprach ich aus, was mir seit Wochen und Monaten auf der Zunge brannte. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und aus und lächelte. „Sehr cool.", meinte sie und fuhr mit ihrer Hand vorsichtig über meinen Rücken. „Dann bist du jetzt nicht mehr alleine und ich auch nicht mehr.", sagte sie. Ich nickte. „Ja", sagte ich und in diesem Moment spürte ich, wie eine Last von mir abfiel. Eine Last, die das Gewicht von mehreren Monaten hatte. „Hast du denn deinen Namen geändert?" Ich nickte. „Kannst du mich bitte Finley nennen?", fragte ich vorsichtig. Sie nickte und sagte: „Kannst du mich bitte Lola nennen?" „Klar", sagte ich und merkte, wie eine kleine Träne über Lolas Wange kullerte. Ich umarmte sie stärker und wischte ihr vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht, die ihr über die Wange kullerten. „Hast du auch deine Pronomen geändert?", fragte ich sie. Sie nickte. "Ja. Ich möchte ab jetzt mit dem Pronomen "er" angesprochen werden, Finley.", sagte er. Ich nickte. "Okay, Lola. Dann spreche ich dich ab jetzt mit "er" an.", sagte ich und wischte ihm eine weitere Träne aus dem Gesicht. „Und du?", fragte sie. „Nein, ich hab meine Pronomen nicht geändert.", sagte ich. Er nickte. "Okay", meinte Lola. Ich blickte auf die kleine, weiche Hand in seinem Schoss und sah, wie sich seine Fingernägel in seine Handinnenflächen krallten. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach seiner aus und berührte seine Fingerspitzen. Lola lies langsam seine Finger locker. Dieser Schritt hatte mich unglaublich viel Überwindung gekostet.
„Wissen es denn schon andere Menschen, Lola?", fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, und bei dir?", fragte er und wischte sich die Tränen weg.
„Bei mir auch nicht", sagte ich.
Wir saßen einige Minuten einfach da und es war wunderschön. In diesem Moment glaubte ich zum ersten Mal, jemand gefunden zu haben, der zumindest teilweise nachvollziehen konnte, was ich fühlte.


Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt