Lola fühlt

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Lola

Als ich am selben Abend das Dach betrat, war es dunkel in der Sternwarte. Finley war nicht da, ich war allein. Allein an dem Ort, der für uns beide so wichtig war. Allein an dem Ort, an dem wir uns normalerweise frei fühlten. Vorsichtig erklomm ich eine Stufe nach der anderen und stand nun auf der Kante zum Abgrund. Eigentlich hatte ich keine Angst vor der Höhe, doch heute Abend gab es kein „eigentlich", heute Abend gab es auch kein „normalerweise" und auch kein „wie sonst". Heute Abend fühlte ich mich hier oben nicht frei. Doch ich hatte es in meinem stickigen Zimmer nicht mehr ausgehalten. Heute Abend gab es nur eine große Wolke in meinem Kopf, die sich vor meine Hoffnung geschoben hatte. Langsam stieg ich von der Kante und lief über die kaputten Fließen auf dem Boden, die unter den Sohlen meiner Sandalen leise knackten. Ich schob ein paar Glasscherben vom Boden, dann setzte ich mich vor die Satellitenschüssel und lehnte mich mit dem Rücken an die große, runde Scheibe an. Mein Handy ließ ich neben mich auf den Boden fallen und strecke meine Beine aus. Neben mir lag eine kleine Decke auf dem Boden. Ich hob sie auf und legte die Decke über meine Beine. Es war kalt, das wusste ich. Doch ich spürte die Kälte gar nicht richtig. Für einige Minuten legte ich den Kopf in den Nacken und betrachtete die wenigen Sterne, die über unserem Wohnblock aufgegangen waren. Nun schien alles hoffnungslos. Eigentlich glaubte ich nicht daran, dass es keinen Ausweg aus schwierigen Lebenslagen geben könnte. „L'espoir fait vivre" – Die Hoffnung stirbt zuletzt, hatte meine Mutter, als ich noch ein kleines Kind war, immer zu mir gesagt. Ich erinnerte mich daran, wie sie mir immer über die Stirn gestreichelt hatte, wenn ich traurig war. „Ça va aller", hatte sie immer gesagt, was so viel bedeutet, wie „alles wird gut".

Doch jetzt war ich kein kleines Kind mehr. Jetzt hatte ich einen Freund, den die Schule so weit gebracht hatte, dass er sich umbringen wollte. Mein Freund lag im Krankenhaus, in der Notaufnahme. Ich hatte begonnen, daran zu zweifeln, dass es einen Ausweg geben könnte. Vor ein paar Wochen hätte ich niemals gedacht, dass ich jemals darüber nachdenken würde, über meine Gefühle zu sprechen. Doch in den letzten Tagen hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, mich zu öffnen und darüber zu sprechen, was mich beschäftigte. Doch das war nicht einfach, sondern fühlte sich fast unmöglich an. Andererseits wusste ich, dass ich Finley, seit wir uns das erste Mal gesehen hatten in vielen Situationen ziemlich verwirrt hatte. Ich hatte ihn, als es mir nicht gut ging, allein im Regen stehen gelassen, und deswegen fühlte ich mich schlecht. Er hatte in diesen Situationen nichts dafürgekonnt, dass alles aus meiner Vergangenheit wieder in mir hochgekommen war. Und trotzdem hatte er meine Wut und mein distanziertes Verhalten ertragen müssen. Ich fühlte mich schlecht und wusste gleichzeitig, dass die Sache mit meinem Vater unglaublich schwer auf mein Herz drückte. So schwer, dass ich nicht mehr fühlen konnte. Mein Handy vibrierte. Ich hob es auf und sah, dass Mike mir geschrieben hatte. „Bock morgen nach der Schule zu quatschen?", hatte er geschrieben. „Spielplatz?", ploppte in einer weiteren Nachricht auf meinem Bildschirm auf. Stimmt, dachte ich. Mike war ja auch noch da. Er war bei Finley gewesen, als ich nicht bei ihm sein konnte. Er hatte ihn im Krankenhaus begleitet. Das war unglaublich stark von ihm. „Ja", tippte ich in mein Handy. Ich warf das Handy wieder neben mich auf den Boden. Vielleicht würde es ja helfen, mit Mike zu sprechen, dachte ich. Der Mond war aufgegangen und spendete etwas Licht in dieser dunklen Nacht. Lange überlegte ich hin und her, dann fasste ich eine Entscheidung.

Ich beschloss Finley anzuvertrauen, was mein Vater getan hatte.


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