29. Reden (tw)

23 1 0
                                    

Lilly

Ich setzte mich neben ihn auf den Heizkörper vor dem Aufenthaltsraum und legte meinen Arm um ihn. Dann vergingen ein paar quälend lange Sekunden, seine Lippen bebten, dann brach er in Tränen aus. Ich blieb ganz ruhig und bei ihm. Wut durchströmte meinen Körper. Wut auf die Jungs, die ihn gerade so fies fertiggemacht hatten. Wut darauf, dass ein so lieber Mensch wie Erik so viel schlimmes aushalten musste und nun einfach nicht mehr konnte. Ich nahm mir vor, ihm all meine Aufmerksamkeit zu schenken. „Lilly, mir geht es gerade nicht so gut", schluchzte er. „Wieso? Was ist passiert?" fragte ich besorgt. „Ich habe so doll Angst vor der Schule! Und ich habe etwas über mich herausgefunden, und jetzt habe ich Angst, von niemandem akzeptiert zu werden." „Was hast du denn herausgefunden, Erik?", fragte ich und legte eine Hand auf seine Schulter. „Es ist eigentlich überhaupt nicht schlimm. Es ist eigentlich total schön. Ich habe nur schrecklich Angst, deswegen ausgegrenzt und als komisch angesehen zu werden.", stammelte er. "Ich werde dich nicht verurteilen, wirklich nicht. Das verspreche ich dir", sagte ich und nickte entschlossen. Er atmete tief durch. „Ich fühle mich seit einiger Zeit nicht wie ein Junge und auch nicht wie ein Mädchen. Ich glaube, ich bin nichtbinär. Und da das alles noch relativ frisch und neu für mich ist, bin ich noch total unsicher, wie ich damit umgehen soll." Ich musste lächeln, ich freute mich unglaublich für ihn, und gleichzeitig breitete sich ein tiefer Schmerz in meiner Brust aus. „Das ist doch voll schön", sagte ich. „Hast du denn schon mit anderen Menschen darüber geredet?" „Mit Anna", sagte er und senkte schnell den Kopf. „Und ich möchte auch meinen Namen ändern. Kannst du mich ab jetzt bitte mit Finley ansprechen?", bat er. „Klar, selbstverständlich", sagte ich und lächelte. Für ein paar Sekunden war es einfach nur still, und ich überlegte, ob ich aussprechen sollte, was ich überlegte ihm anzuvertrauen. Ich schloss meine Augen und hörte auf mein Herz. Dann beschloss ich, zu sprechen.

„Ich kann deine Sorgen auch ein bisschen nachvollziehen, Finley.", sagte ich „Wieso?" Ich lehnte mich zurück und ließ mir dieses Mal sehr viel Zeit mit der Antwort. „Ich hab dir ja mal gesagt, dass ich nicht bei meiner Mutter, sondern bei meiner Tante lebe", begann ich. Finley nickte und wischte sich die Tränen weg. "Was ich dir jetzt erzähle, behalte bitte für dich, ja?", sagte ich und blickte ihn eindringlich an. „Mein Vater wurde letztes Jahr bei einer Messerstecherei in einem LGBTQ+ Club getötet. Der Täter war Transphob und mein Vater wollte einen Mann beschützen, der sehr viel Blut verloren hatte, und wurde dabei ebenfalls erstochen." „Was?! Das ist ja schrecklich!!!", rief er. Ich nickte trocken und schluckte. „Seither lebte ich mit meinem kleinen Bruder bei meiner Mutter. Er lebt immer noch dort. Doch ich habe es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Dann bin ich zu meiner Tante gezogen.", fuhr ich fort. „Ich vermisse meinen kleinen Bruder", sagte ich und musste erneut schlucken. „Das ist absolut verständlich!", sagte er und umarmte mich vorsichtig. Ich lächelte. „Ich werde dich also auf jeden Fall akzeptieren", sagte ich und legte einen Arm um seine Schulter. „Das tut mir schrecklich leid, Lilly", stammelte er. Ich schüttelte schnell den Kopf. „Du kannst doch nichts dafür", murmelte ich. Der laute, scheppernde Pausengong zerstörte unser Gespräch. Warum musste es genau jetzt klingeln? Doch ich durfte auf keinen Fall zu spät zum Unterricht kommen. Ich stand auf und packte meine Tasche. „Ich muss jetzt ganz hoch zu Bio", sagte ich und umarmte ihn ein letztes Mal. „Sehen wir uns später?" „Ja", sagte er. „Okay, bis dann." Ich drehte mich um und lief schnell die Treppe hinauf.

Finley

Ich war schockiert darüber, was sie mir anvertraut hatte.


Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt