Die Wohnung meiner Großeltern war nicht besonders groß. Ein Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer, sowie ein Bad und zwei Arbeitszimmer, mehr Räume gab es nicht. Doch ich hatte mich, als ich am Morgen die Wohnung betreten hatte, direkt wohlgefühlt. Mein Opa hatte mich in sein chaotisches Arbeitszimmer mitgenommen. Als wir das Zimmer betraten, fühlte sich der Raum seltsam vertraut an, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Es war ein nostalgisches Gefühl, nach all dem, was passiert war, endlich bei meinen Großeltern zu sein. Das Zimmer sah fast so aus, wie das Zimmer eines Erfinders. An der Wand standen Regale, die mit Büchern vollgestopft waren. Durch das Fenster fiel schwach das Sonnenlicht und warf Schatten auf den alten Holzfußboden. Neben dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem ein Globus, viele Stapel Papier, Bücher, Stifte und ein Laptop standen. „Sag mal, mein Junge", begann mein Opa, nachdem ich das Zimmer einige Minuten durchstöbert hatte. Ich saß in seinem Sessel, der in der Mitte des Raumes, stand und blickte auf eine Weltkarte, die an der Wand gegenüber hing. Mein Opa saß seinem Schreibtischstuhl. „Wieso ist die Schule eigentlich so wichtig?", fragte er. Ich löste meinen Blick von der riesigen Weltkarte und blickte zu ihm. „Weil wenn man nicht lernt und funktioniert, man schlechte Noten und ganz viel Ärger bekommt.", sagte ich. Mein Opa schüttelte schnell den Kopf. „Nein. Das wird dir und deinen Freunden dort vielleicht beigebracht. Aber in Wahrheit ist es völlig anders.", sagte er. „Wieso ist es anders, Opa?", fragte ich. Mein Opa lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück. „Weil man das, was wirklich wichtig für das Leben ist, nicht in der Schule lernt. Man lernt stattdessen endlos viele Dinge auswendig, um sie nach der Klausur sofort wieder zu vergessen. In ein paar Jahren wird dieses auswendig gelernte Wissen absolut überflüssig sein, weil sich jeder Mensch über das Internet Informationen mit zwei oder drei Klicks besorgen kann." Ich schwieg. Er hatte Recht. „Man lernt, in ein System hineinzupassen, das dir vorschreibt, was du genau zu lernen hast. Sag mir, mein Junge, wo werden in der Schule individuelle Stärken gefördert?", fuhr mein Opa fort und in seiner Stimme schwang immer mehr Wut mit. Ich schwieg erneut. Mir fiel keine Situation aus dem letzten Jahr ein, in der meine Stärken gefördert wurden. „Im Gegenteil", fuhr mein Opa fort, fast, als hätte er gewusst, dass ich dies gleich sagen wollte. „Es wird gezielt auf deine Schwächen geschaut, und diese werden bestraft. Eine Zahl auf einem Blatt Papier, dafür leiden so viele Kinder und Jugendliche. Das ist verdammt ungerecht. Niemand von den Lehrern, die angeblich so objektiv bewerten, weiß, was gerade im Leben eines Schülers los ist und womit die Person gerade zu kämpfen hat. Und wenn dann jemand in einer Woche, mit 36 Wochenstunden, zwei Klausuren und einem Referat nicht noch die Zeit hat, alle Hausaufgaben perfekt ausgearbeitet, ordentlich und pünktlich zu machen, dann wird man bloßgestellt und gedemütigt. Das ist doch nicht gerecht!", fuhr er fort. Auch dieses Mal nickte ich und sagte nichts, jedoch war ich immer mehr davon überzeugt, dass es stimmte, was mein Opa sagte. Mein Opa rollte mit seinem Schreibtischstuhl zu mir, musterte mich kurz, dann griff er vorsichtig nach meinen Händen, die auf meinen Oberschenkeln lagen und drückte sie vorsichtig mit seinen warmen Händen. „Aber jetzt bist du hier! Und du darfst so lange hierbleiben, wie du möchtest", sagte er und lächelte. Sein Lächeln war so ansteckend, dass ich sofort zurücklächeln musste. „Danke Opa", sagte ich. „Nicht dafür, mein Junge.", sagte mein Opa, strich mir kurz durch die Haare und klopfte mir auf die Schulter. „Aber...", rief er plötzlich, "du musst mir bei einer Sache helfen." „Klar, Opa. Was brauchst du?", antwortete ich und richtete mich auf. „Ich muss am Laptop etwas für Rudolph schreiben, mein Freund aus dem Geographiestudium, erinnerst du dich?", erklärte er. Ich nickte, er hatte mir vor einigen Jahren von Rudolph erzählt. Er war sein bester Freund, sie hatten nach so vielen Jahren immer noch Kontakt. „Aber irgendwie funktioniert der Laptop nicht so, wie er soll.", erklärte er. „Klar, ich schaue gleich mal nach, was los ist.", sagte ich, stand auf, griff nach dem Laptop und klappte ihn auf. Der Bildschirm war schwarz, ich drückte auf den Knopf in der rechten, oberen Ecke der Tastatur, um das Gerät anzuschalten. Der Bildschirm leuchtete kurz auf, ein rotes Warndreieck blinkte auf, dann war ein Batteriesymbol zu sehen auf dem nur ein roter Balken schwach leuchtete und blinkte. „Opa, der Akku ist einfach leer", sagte ich und lachte. Auf dem Schreibtisch lag ein schwarzes Aufladekabel, ich griff danach und steckte es in den dafür vorgesehenen Steckplatz am Laptop. Es dauerte einige Sekunden, dann hörte man, wie das Gerät zu arbeiten begann und der Bildschirm flackerte auf. „Das gibt es doch nicht", rief mein Opa aufgebracht und klatschte in die Hände. „Ohne dich hätte ich gedacht, der Computer wäre kaputt. Vielen Dank", rief er und drückte mich ganz fest an sich. „Es gibt Essen", rief meine Oma plötzlich aus der Küche. Mein Opa und ich blickten uns kurz an, dann nickten wir und liefen aus dem Arbeitszimmer ins Wohnzimmer.
Ich blieb etwas mehr als eine Woche bei meinen Großeltern, verbrachte viel Zeit mit ihnen, half ihnen im Haushalt, wir unternahmen viele Spaziergänge und erlebten Ausflüge. Mein Opa zeigte mir alles, was sich in seinem Zimmer befand, jedes einzelne Detail erklärte er mir und meine Oma kochte jeden Tag unglaublich leckeres Essen. Aber vor allem lernte ich, das Leben wieder – oder zumindest teilweise – zu lieben.
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Plötzlich Erwachsen
Teen FictionFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...