Gefährliche Schulden

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Am selben Abend saß ich auf dem Balkon, der an das große Fenster grenzte, welches in mein Zimmer führte. Ich hatte beschlossen, die Abendsonne noch etwas zu genießen, und hatte mich mit einem Buch in die kleine Hängematte gelegt, die zwischen den beiden Wänden des Balkons aufgespannt war. In dem Buch, dass ich las, ging es um die wichtigsten Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts, die in Politik und Gesellschaft unglaubliches bewegt hatten. Es ging um Menschen, ohne die unsere Gegenwart nicht so wäre, wie sie jetzt ist. Wo wären wir heute ohne Martin Luther King, ohne Sophie Scholl und ihren Bruder Hans, die während der NS-Diktatur unglaubliches geleistet hatten? Wir wissen es nicht. Niemand konnte die Vergangenheit verändern. Doch in die Zukunft blicken, das konnte ich. Und diese Zukunft sah, angesichts der Tatsache, dass sich Lola mit mir treffen wollte, sehr gut aus. Ich lächelte, klappte das Buch zu und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die auf den Balkon fielen. Die Sonne ging langsam unter. Plötzlich vibrierte mein Handy. „Yoooo! Hangover bei mir! Im Partykeller! Standort kommt gleich!! Wir sehen uns heute Abend!!" Die Nachricht kam von Mike. Er hatte eine WhatsApp-Gruppe erstellt. Schnell tippte ich auf die Gruppenbeschreibung, um zu sehen, wen er alles eingeladen hatte. In der Gruppe waren außer Mike und mir noch seine Freundin Leni, Lilly und Lola. Die anderen Nummern kannte ich nicht. Ich legte das Handy weg und ließ mich wieder in die Hängematte fallen. Doch mein Handy vibrierte erneut. Dieses Mal hatte Mike eine Abstimmung geschickt. „Bin ein Macher, oder bin ein Keck", waren die beiden Auswahlmöglichkeiten. Angestrengt dachte ich nach. Würde ich es schaffen, die Party zu überstehen?
„Erik, Mama und ich gehen heute Abend essen!", rief mein Vater plötzlich von drinnen.
Wie aus Reflex nickte ich schnell und mein Herz schlug schneller.
„Okay, viel Spaß!", rief ich und stand auf. Damit war die Sache entschieden.
Ich stimmte ab, und entschied mich dafür, ausnahmsweise mal ein Macher zu sein.

Am selben Abend stieg ich aus der Straßenbahn, die direkt vor dem Hochhaus hielt, in dem Mike mit seiner Familie wohnte. Unter dem Haus war ein Partykeller, in dem Mike seine Party veranstalten wollte. Die Türe war angelehnt, weswegen ich sie einfach aufdrücken konnte. Ich stand im kalten Treppenhaus. Die einfachen Steinfließen, die die Treppe nach unten bedeckten, quietschten unter meinen Schritten, als ich langsam die Treppe in Richtung Keller hinablief. Leise Stimmen und leise Musik drangen mir entgegen. An der Wand war auf einem Stück nassen Karton die Aufschrift „Party!!!" angebracht. Darunter zeigte ein Pfeil, dass ich den Gang nach rechts neben mit entlanglaufen musste. An den Seiten des Ganges waren überall kleine Kellertüren, die zu den Abstellkammern der Familien führten, die ebenfalls in dem Hochhaus wohnten. Die Musik und die Stimmen wurden immer lauter.

Nun stand ich vor der Türe. Zwar war ich noch immer aufgeregt, doch dieses Mal war es eine andere Art der Aufregung als die, die ich auf Jans Party am Anfang des Schuljahres verspürt hatte. Ich hatte weniger Angst, stattdessen freute ich mich umso mehr, die anderen, und vor allem Lola wiederzusehen.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und betrachtete mich in der Kamera, um sicherzugehen, dass ich einigermaßen okay aussah.

Dann öffnete ich die Türe.

Nun erdrückte mich die Lautstärke fast. Im dem großen, weitläufigen Raum standen viele Stehtische, Bänke und alte Sofas, auf denen sich viele Jugendliche, ungefähr in meinem Alter aufhielten. Es lief Rap und Techno, der tiefe Bass brachte den Boden zum Vibrieren. Ich erkannte Mike, der mir von der anderen Seite des Raumes winkte, sein Bier abstellte und auf mich zulief. Er war nicht alleine, neben ihm stand Jan, aus dem Vauban, der Typ, bei dem wir am Anfang des Schuljahres ebenfalls eine Party gefeiert hatten.

„Yooo, Erik!", rief Mike, als er vor mir stand.
Wir begrüßten und mit einem Handschlag. Mike schien schon leicht betrunken, doch immer noch freundlich und nett, wie immer eben.
„Was magst du trinken?", rief Mike, um die Lautstärke der Musik zu übertönen.
„Ne' Cola", rief ich zurück.
„Okay, bediene dich einfach", sagte Mike und zeigte auf die kleine „Bar", die aus ein paar Stehtischen und Bänken bestand.
„Ist alles umsonst", rief er.
„Danke", rief ich und lief auf die Bar zu. Ich nahm mir aus der Kiste mit den Colaflaschen eine Cola heraus und öffnete sie. Dann lief ich an den Tisch, an dem die anderen standen.
„Ey, Erik! Schön, dass du da bist!", rief Lilly, als sie mich näherkommen sah.
„Hey, Leute! Danke, dass ich hier sein darf!", rief ich zurück.
Lola streckte seine Hände aus und winkte mir. Da war es wieder. Das Kribbeln im Bauch. Das Kribbeln, dass immer dann auftrat, wenn ich Lola sah.
Nun stand ich neben ihm.
„Hey", sagte er, und drückte mich kurz an sich.
Ich lächelte und legte meine Hand kurz auf seine Schultern. Für einige Sekunden verweilten wir so und es war wunderschön. Ich wünschte, dass die Umarmung niemals geendet hätte.
„Mike, ich hol' mir nochmal was zu trinken!", sagte Lola plötzlich und löste sich aus der Umarmung.
„Okay, klar!", antwortete Mike. „Du weißt ja, wo die Kisten stehen!"
Lola nickte und lief davon, in Richtung der Bar und ich stand alleine bei den anderen. Hatte ich etwas falsch gemacht? Wollte er sich wirklich nur etwas zu trinken holen? Oder wollte er sich einfach so schnell wie möglich aus der Umarmung lösen?
„Alter, es hat so lange gedauert, bis ich jemanden für Jamie gefunden hatte", sagte Mike schließlich.
„Wer ist Jamie?", fragte ich.
„Mein kleinster Bruder", erklärte Mike. „Er hat das Down-Syndrom, deswegen muss immer jemand auf ihn aufpassen."
„Oh, okay, verstehe", antwortete ich.
Mike nickte.
„Ich hab schon gedacht, ich könnte das hier heute Abend ich die Tonne kloppen, weil ich niemand für ihn finde. Aber dann hab ich beim Kisten schleppen heute Mittag die nette Oma aus der Etage unter unserer Wohnung getroffen. Sie hat mich gefragt, ob ich ihre Einkäufe in die Wohnung tragen kann", erzählte Mike.
Ich sah, wie Lola wieder zu unserem Tisch zurückkehrte. In der Hand hielt er eine Bierflasche, die er an der Kante des Tisches öffnete und schnell daraus trank.
„Um was geht's?", fragte er in die Runde.
„Um Jamie", sagte Lilly zu Lola.
Lola nickte und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch.
„Auf jeden Fall hat sich die Oma dann ziemlich gefreut und meinte, dass ich mich unbedingt melden sollte, falls ich mal Hilfe bräuchte. Deshalb hab ich sie heute Mittag nochmal kurz darauf angesprochen und sie kümmert sich jetzt um Jamie.", beendete Mike seine Erzählung.
„Krass", sagte ich. „Aber voll nett von ihr"
Die anderen nickten zustimmend. Ich sah mich im Raum um und erkannte Leni, die mit ein paar anderen Mädchen auf dem zerkratzten Sofa saß, dass ein paar Meter neben unserem Tisch stand.
Tatsächlich war die Party nicht so schlimm wie die Party bei Jan. Ich war weniger überfordert als damals. Das Treffen mit Lola am Wochenende gab mir Sicherheit.
„Was haben deine Eltern eigentlich dazu gesagt?", sagte Lola plötzlich zu Mike.
Irgendwie war es seltsam, dass Lola und ich und noch gar nicht unterhalten hatten. Ich wurde zunehmend verwirrter. Lola wollte sich mit mir treffen, doch gleichzeitig sprach er jetzt, wo wir uns doch sehen konnten, kaum ein Wort mit mir.
„Zu was?", antwortete Mike.
„Zu der Sache mit Jamie.", sagte Lola.
„Meine Mum war ziemlich froh darüber. Sie hat auch gesagt, dass es ihr total leitgetan hätte, wenn sie mir hätte verbieten müssen, heute mit euch zu feiern. Mein Vater arbeitet, und sie hat heute Abend einen wichtigen Termin. Deshalb sollte ich ja eigentlich auf ihn aufpassen. Sie meinte, sie hätte mir das Feiern auch nur verboten, weil Jamie nicht lange alleine sein kann, nicht um mich zu ärgern.", erklärte Mike.
Lola nickte.
„Klar, verstehe", sagte er.
„Ich mag deine Mum. Sie ist ganz nice", fügte er hinzu und lächelte.
Ich fühlte mich mehr und mehr komisch. Warum sprach Lola mit allen anderen, nur mit mir nicht? Doch mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken, denn was im nächsten Moment passierte, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.

Die Türe flog auf und drei große, kräftige Typen kamen herein. Mike hätte, obwohl er groß und kräftig war, bestimmt mehrmals in sie hineingepasst. In diesem Moment wusste ich noch nicht, dass mein Freund gleich ziemlich in Schwierigkeiten geraten würde. Die drei Typen trugen schwarze Lederjacken, schwarze Sonnenbrillen und hatten die Haare auf dem Kopf bis zur Haut zu einer Glatze abrasiert. Einer der drei, der etwas kleiner war als seine Komplizen rannte direkt zur Musikanlage und schaltete die Musik aus. Ich traute meinen Augen kaum, als die drei auf uns zukamen, genauer gesagt direkt auf Mike zusteuerten. Nun standen sie direkt vor ihm.

„Und, alles klar?", fragte einer ironisch.
Ehe sich Mike umblicken konnte hatte ihn der Typ, der gerade mit ihm gesprochen hatte in den Schwitzkasten genommen.
„Gib uns sofort die Kohle!", befahl er.
Ich war vor Schock wie gelähmt, und auch den anderen Personen im Raum ging es nicht besser.
„Mike, was ist los?", raunte ich. „Was meinen die Typen?"
Doch Mike antwortete nicht. Er kämpfte gegen den festen Griff seines Gegners an, der ihn immer stärker festhielt. Die beiden anderen Typen hatten sich in der Zwischenzeit vor den restlichen Jugendlichen auf der Party aufgestellt und sorgten dafür, dass niemand zu Mike rennen konnte.
Plötzlich schrie Mike auf und stand vor dem Typen, der ihn festgehalten hatte. Er hatte sich befreien können. Mike blutete aus der Nase, er war nassgeschwitzt und knallrot im Gesicht.
„Okay, okay, ist ja gut. Lasst uns einfach in Ruhe, ja?", rief er den Typen entgegen. „Ihr bekommt euer Geld!"
Als wäre dieser Satz ein abgesprochenes Kommando, trat das Trio einen Schritt von Mike zurück. Ich sah, wie Mike in Richtung der Türe stapfte. Er wirkte schrecklich wütend und hilflos.
„Ihr anderen bleibt hier! Keiner rührt sich von der Stelle!", befahl der zweite, etwas kleinere Typ.
Kein einziges Geräusch war zu hören. In der Stille wirkte jedes Atmen, jedes Zucken und Rascheln wie ein Donnerschlag.

Plötzlich flog die Türe erneut auf und Mike platzte herein. In der Hand hielt er einen 50-Euro Schein, den er dem etwas Kleineren der drei Jungs hinstreckte. Der Typ riss Mike die Kohle aus der Hand, dann blickte er zu seinen Kollegen und bedeutete ihnen mit einem Kopfnickten den Raum wieder zu verlassen.

Als die drei den Raum verlassen hatten, herrschte immer noch Totenstille. Mike wankte zu unserem Tisch, stützte sich darauf ab und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Meinen Freund so zu sehen war in diesem Moment so herzzerreißend, dass mir die Worte wegblieben. Am liebsten hätte ich Mike getröstet und wäre bei ihm geblieben. Doch ich konnte nicht. Ich hatte mich so erschrocken, dass meine Beine zitterten. Plötzlich spürte ich, wie mein Atem schneller ging, meine Sicht wurde unklarer und mir wurde schwindelig.

Ich wusste, dass es feige war, was ich tat. Doch ich konnte nicht anders. So schnell ich konnte, rannte ich zur Türe und verließ den Raum.

Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt