18. Glockenschläge (tw)

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In der darauffolgenden Nacht konnte ich nicht schlafen. Immer wieder drehte ich mich herum, wälzte mich auf die andere Seite, doch es half nichts. Ich konnte nicht schlafen! Dabei hatte ich es dringend nötig, denn die letzten Schulwochen waren unglaublich intensiv gewesen, intensiver als ich es erwartet hatte. Ich stand auf und streckte mich. Der Mond schien in mein Zimmer und warf unheimliche Schatten in den Raum. Alles wirkte viel größer als sonst, und ich - mittendrin. Nach einigen Minuten beschloss ich, auf den Balkon vor meinem Zimmer zu gehen. Als ich aufstand, bemerkte ich das beklemmende, drückende Gefühl im Magen und eine schmerzhafte Traurigkeit durchströmte meinen ganzen Körper. Ich wollte wirklich nicht mehr zur Schule. Einige Sekunden stand ich in meinem Zimmer, reglos, dann blickte ich mich um. Die Poster der Politiker, die Tierbilder, die Bücher über Tiere, alles schien mir so sinnlos. Ich betrat den Balkon. Er war nicht besonders groß, ein Campingstuhl stand drauf, daneben ein Sonnenschirm und ein paar Pflanzen. Es war kalt, doch es war gleichzeitig angenehm hier draußen zu sein. Ich hatte das Gefühl, zumindest etwas von all dem, was mir das Gefühl gab, zerdrückt zu werden, vergessen zu können. Zumindest glaubte ich das. Ich lief nach vorne zum Geländer und stützte mich darauf ab. Vor mir lag die beleuchtete Freiburger Innenstadt. Ich rieb mir die Augen und sah, wie in der Ferne die Lichter des Bahnhofsgebäudes leuchteten. Der Bahnhof, der Ort, an dem so viele Menschen sich ihre Träume erfüllten und reisen gingen. Ich wollte auch verreisen, ich wollte meinen Opa in Berlin besuchen und meine Oma endlich wieder sehen. Ich vermisste die beiden. Es war mindestens zwei Jahre her, als ich die beiden das letzte Mal gesehen hatte. Die Kirchturmuhr des Freiburger Münsters schlug 4-mal. Anscheinend konnte ich doch nicht alles vergessen. Das Gefühl der Traurigkeit schlicht erneut durch meinen Körper wie jeden Abend, wie jede Nacht, wenn ich versuchte zu schlafen. Es zerfraß jede Hoffnung, die ich hatte, verstanden und akzeptiert zu werden, sogar die Hoffnung darauf bei Lola akzeptiert und verstanden zu werden, obwohl ich eigentlich wusste, dass er mich verstand und akzeptierte. Langsam lief ich auf das Geländer zu. Hat es noch einen Sinn, jeden Tag in die Schule zu gehen? Immer mehr bezweifelte ich dies. Mit zitternden Händen stieg ich auf das Geländer und setzte mich auf die kleine Mauer, die den Balkon abgrenzte. Neben mir lag ein Stein, es war kein großer Stein, nur ein kleiner, bei dem man es wahrscheinlich gar nicht hören würde, wenn er nach unten fallen würde. Ich ergriff ihn und ließ ihn fallen. Den Aufprall hörte ich tatsächlich nicht mehr. Warum sollte jemand hören, wenn ich da runterfallen würde? Bei einem Kieselstein hört man ja auch nicht, wenn er vom Balkon fällt, und niemand kümmert sich darum. Wieso sollte sich dann jemand bei mir kümmern, wenn ich vom Balkon stürzen würde, oder?
„Erik? Was machst du da?", hörte ich plötzlich jemanden hinter mir sagen.
Ich zuckte zusammen, drehte mich ruckartig um, dann sah ich meinen Vater, der hinter mir stand. Er musste mich gehört haben, schließlich war das Schlafzimmer meiner Eltern direkt neben meinem Zimmer.

Wie sollte ich ihm das bloß erklären?!

„Ähm nichts, ich konnte nur nicht schlafen und hab frische Luft geschnappt, ich hatte Kopfschmerzen und sie sind noch nicht besser geworden", sagte ich. Mein Vater blickte mich misstrauisch an. „Bist du krank? Gestern hattest du dich doch noch mit Freunden getroffen?!", murmelte er mit einem skeptischen Unterton in der Stimme. „Ja, denke schon", sagte ich schnell und fügte hinzu: „Mein Hals kratzt auch die ganze Zeit", fügte ich hinzu. Ein paar Sekunden blickten wir uns an, mein Vater schien misstrauisch und skeptisch, dann zuckte er mit den Schultern und nickte. "Naja, das passiert halt mal, wird schon nicht so schlimm sein", murmelte er. „Ich bleib morgen zu Hause", sagte ich. „Mach, was du meinst", sagte mein Vater, drehte sich herum und verließ mein Zimmer.

Ich stieg vom Balkongeländer.

Langsam lief ich in mein Zimmer, ich setzte mich auf mein Bett und ließ mich nach hinten fallen. Mein Vater hatte keine Ahnung, warum ich wirklich nicht zur Schule gehen konnte. Seit Beginn der Oberstufe war meine Angst vor der Schule, so groß, dass ich es vermieden hatte, zur Schule zu gehen. Langsam realisierte ich, wie sehr die Schule mein Leben zerfressen hatte. Ich seufzte und griff nach meinem Handy. Es war bereits 4:13 Uhr morgens, und ich beschloss, die Hoffnung aufzugeben, dass mir jemand eine Nachricht geschrieben haben könnte, dass jemand Interesse daran haben könnte, Zeit mit mir zu verbringen oder von mir zu hören. Zwischen den chaotischen Gedanken zum Thema Schule beschäftigte mich in dieser Nacht vor allem eine Frage. Hatte mein Vater verstanden, wie es mir ging?

Am nächsten Morgen lag ich in meinem Zimmer auf meinem Bett. Wäre ich in der Schule, würde gerade die dritte Stunde beginnen, doch ich hatte es nicht geschafft. Ich war zu Hause geblieben. Leicht abwesend starte ich an die Decke, sie war weiß und leer, so leer wie mein Herz. Nichts gab mehr Sinn, ich hatte so wenig Motivation und Kraft, dass ich nicht mehr zur Schule gehen konnte.

Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt