43. Ich bin froh, dass du noch da bist

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Den Mittag hatte ich allein verbracht, die meiste Zeit war ich auf meinem Zimmer gewesen und in meinem Bett gelegen. Alle zwei Stunden war die Krankenschwester vorbeigekommen, um zu schauen, ob ich noch da war und ob es mir gut ging. Gegen Nachmittag hatte ich es kurz geschafft, aufzustehen.

Ich war in den Hof gegangen, in dem große Rasenflächen und einige Pflanzen und Blumen etwas Hoffnung schenkten. Zwar hatte ich immer noch schreckliche Kopfschmerzen, doch ich konnte die Krankenschwester, die um 17:00 nach mir geschaut hatte, davon überzeugen, zumindest bis zum Abendessen in den Hof zu dürfen. Ich hatte mich auf eine Bank gesetzt und ließ meinen Blick über die Grünflächen schweifen. Ein leichter Wind ging und wehte durch meine Haare. Ich atmete ein paar Mal tief durch. Auf den kleinen, gepflasterten Wegen, die neben den Rasenflächen verliefen, schob ein Pfleger ein kleines Mädchen, das im Rollstuhl saß. Das Mädchen war sehr dünn, es schien ungefähr 13 oder 14 Jahre alt zu sein, sie hatte eine Infusionsnadel im Arm und hielt sich mit aller Kraft an den Armlehnen ihres Rollstuhls fest. Für einen kurzen Moment blickte sie auf und sah mir traurig in die Augen. Ich wandte meinen Blick von ihr ab und blickte auf das große Gebäude vor mir. Unzählige Fenster führten zu unzähligen Büros, in denen Pfleger und Ärzte ihre Arbeit machten und sich um die Patienten kümmerten. Es tat gut, etwas an der frischen Luft zu sein. Immer wieder dachte ich an Lola, ich zählte die Stunden und Minuten, bis er mich morgen endlich besuchen kommen sollte. Es dauerte nicht mehr lange, redete ich mir ein. Ich verweilte noch einige Zeit an der frischen Luft, bis ich mich schließlich auf den Weg zum Abendessen machte.

Nach dem Abendessen lief ich über den Flur, um auf mein Zimmer zu gehen. Die Flure schienen tagsüber leer zu sein, außer zu den Essenszeiten. Als ich mich meinem Zimmer näherte, hörte ich von drinnen eine leise Stimme. Langsam näherte ich mich der Türe, ich blieb stehen und lauschte. „Du bist auf diesem Zimmer nicht alleine, Erik Sommer ist ebenfalls noch mindestens für die nächsten paar Wochen stationär hier untergebracht.", hörte ich die Stimme, die ich nun der Krankenschwester vom Mittag zuordnen konnte. „Okay", antwortete eine schwache Stimme. Dann war es still. Vorsichtig drückte ich die Türklinke hinunter und öffnete die Türe. Drinnen saß ein dünner, kleiner Junge, ich schätzte ihn um die 15 Jahre ein. Er saß in seinem Schlafanzug auf dem Bett und blickte mich erschrocken an. „Ach Erik, gut, dass du da bist!", rief die Krankenschwester und zeigte auf den Jungen. „Das ist Leon. Er ist dein Zimmermitbewohner. Leon, das ist Erik.", sagte die Krankenschwester. „Ich lass euch nun wieder alleine, ja?", sagte sie, lief zügig auf die Türe zu und schloss diese. Langsam lief ich auf mein Bett zu, das gegenüber dem von Leon stand und setzte mich auf mein Bett. Ich musterte Leon, er hatte blonde, kurze Haare, auf seiner kleinen Stirn waren ein paar Sorgenfalten zu sehen. „Keine Angst, Leon. Ich tue dir nichts. Nenne mich einfach Finley, ja?", sagte ich vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. Leon nickte. „Okay, Finley. Ich bin Leon", sagte er. Ich nickte. „Ich weiß, Leon", antwortete ich und legte mich auf mein Bett. „Wieso bist du hier, Finley?", fragte Leon. Ich drehte meinen Kopf zu ihm, richtete mich wieder auf und überlegte kurz, ob es für so einen kleinen Jungen nicht vielleicht etwas zu viel war, zu wissen, was ich machen wollte. Doch dann entschied ich mich dafür ihm zu erzählen, was ich vorgehabt hatte. „Ich wollte von der Brücke springen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, wegen dem Druck in der Schule...", sagte ich schließlich. Leon schwieg und senkte bedrückt den Kopf. „Ich bin heute Mittag hier angekommen, weil ich mir die Arme aufschneiden wollte. Mein Opa ist gestorben und meine Oma musste ins Krankenhaus, weil sie so schlimme Panik davon bekommen hat", sagte er. „Oh, die arme...Das tut mir sehr leid, auch das mit deinem Opa...", sagte ich bedrückt. „Danke Finley...aber es geht schon. Hier wird uns beiden schließlich gut geholfen.", sagte er. Ich nickte. „Ja.", sagte ich schließlich. Wir schwiegen beide und ich ließ mich zurück auf mein Bett fallen. „Ich bin froh, dass du noch da bist, Finley", meinte der Junge plötzlich. Ich hob den Kopf. „Wieso?", fragte ich. „Weil ich finde, dass du nett bist", sagte Leon leise. Mir wurde warm ums Herz. Der Junge war so lieb, ich lächelte ihn an und bedankte mich. In diesem Moment vibrierte mein Handy. Ich hob es auf und sah eine neue Nachricht von Lola. „Ich freue mich ganz doll auf morgen, mein Schatz", hatte er geschrieben. Ich musste lächeln und schöpfte etwas Hoffnung. Nur noch bis morgen durchhalten, sagte ich mir.

Am nächsten Tag kam Lola in die Klinik und besuchte mich. Die Hausaufgaben, die er noch dringend erledigen musste, konnte er noch in der Nacht machen, hatte er gemeint. Wir saßen nebeneinander auf meinem Bett, außer uns war niemand in meinem Zimmer, Leon hatte Therapie und war seit einer halben Stunde weg. „Weißt du schon, wann du wieder nach Hause darfst, Finley?", fragte Lola. Ich zuckte mit den Schultern. „Frühestens in ein paar Wochen, haben die Ärzte gesagt.", antwortete ich. Lola nickte. „Fühlst du dich denn hier wohl?", fragte er. „Ich fühle mich wohl, weil ich nicht in die Schule gehen muss. Aber ich sehne mich gleichzeitig nach der Normalität. Doch die Normalität ist, dass ich mich jeden Tag durch 8 Stunden Schule kämpfen muss, und das dazu geführt hat, dass es so weit gekommen ist, dass ich jetzt hier bin. Verstehst du, was ich meine?" Lola schwieg und starrte für einige Augenblicke aus dem Fenster, dann nickte er. „Aber was ist, wenn durch die Hilfe, die du hier bekommst, diese Normalität irgendwann erträglicher für dich wird?", sagte er schließlich. „Vielleicht. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg", sagte ich und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Lola strich mir durch meine zerzausten Haare. „Aber es ist ein Weg, den du auf jeden Fall schaffen wirst.", flüsterte er und küsste mich auf die Wange. „Glaubst du, deine Eltern verstehen dich, Finley?", fragte er. Ich hob den Kopf und blickte ihm tief in die Augen. „Ich weiß es nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie denken, ich würde übertreiben. Als die beiden in mein Zimmer kamen, am Donnerstag, da hatte ich nicht die Kraft, mit ihnen darüber zu sprechen, was passiert war. Dann hat meine Mutter mir Vorwürfe gemacht, dass ich unbedingt sagen müsste, was los war. Weil sie sich „solche Sorgen" machen würde. Und mein Vater auch, hatte sie gemeint.", erzählte ich. Lola schüttelte schnell den Kopf. „Du musst gar nichts, okay?", sagte er klar und bestimmt. "Guck mal, Finley", sagte er und zeigte auf seine Jeans. Dort waren 3 kleine Sicherheitsnadeln befestigt. Ich musste lächeln und eine kleine Träne kullerte mir über die Wange. "Danke, Lola", sagte ich. Er nickte und drückte mich ganz fest an sich. „Du darfst immer sagen, wenn dich etwas bedrückt, aber es kann dich niemand zu etwas zwingen, auch nicht deine Eltern.", fuhr er fort. Ich nickte, und war mir gleichzeitig total unsicher. Immernoch hatte ich Zweifel daran, ob ich nicht doch hätte, früher mit meinen Eltern sprechen sollen. Doch andererseits, wenn ich an das zurückdachte, was im letzten halben Jahr passiert war, schockierte es mich, dass zumindest mein Vater kaum etwas davon bemerkt hatte. Meine Mutter hatte viel mit ihrer Arbeit zu tun, deswegen konnte ich es bei ihr etwas mehr nachvollziehen, dass sie nichts bemerkt hatte. Eigentlich war es offensichtlich gewesen, dass es mir nicht gut ging. Mein Vater hatte mich schon einmal dabei beobachtet, wie ich nachts auf dem Balkon gesessen bin und kurz davor war aufzugeben und alles zu beenden.

Und doch hatte er nicht reagiert.

„Hab ich dir schon von Leon erzählt?", versuchte ich das Thema zu wechseln.
Lola schüttelte den Kopf.
„Okay. Leon und ich teilen uns ein Zimmer. Er wollte sich selbst verletzen, deswegen ist er hier. Leon ist total lieb. Er meinte, dass er froh sei, dass ich nicht aufgegeben habe.", sagte ich und musste, während ich an unser Gespräch dachte, lächeln.
„Das ist total süß", sagte Lola und umarmte mich.
„Ich bin auch froh, dass du nicht aufgegeben hast", sagte er, als wir uns aus der Umarmung gelöst hatten.
In diesem Moment klopfte es an der Türe, die Türe ging auf und eine Krankenschwester kam herein.
„So, Erik. Es gibt gleich Abendessen, bitte verabschiedet euch...", sagte die Krankenschwester, während sie eine kleine Dose mit vier Fächern voller Tabletten neben mein Bett stellte.
Lola sah mich bedrückt an.
„Ich komme dich wieder besuchen, diese Woche auf jeden Fall noch mindestens einmal, okay?", sagte er und stand auf.
Ich nickte. Dann umarmten wir uns, scheinbar unendlich lange, bis Lola endgültig gehen musste.


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