„Soll ich dir mal etwas zeigen?", fragte Lola plötzlich.
„Ähm, okay, gerne", stammelte ich, unsicher, worauf er hinauswollte. Hoffentlich wird es nichts Schlimmes, dachte ich.
„Komm mal mit", sagte Lola und stand auf. Ich folgte ihm. Lola lief direkt auf eine Ecke des Raumes zu, die Ecke neben dem Fenster, das zum Balkon führte. Direkt unter der Decke blieb er stehen.
„Schau mal nach oben, Finley", sagte er. „Was glaubst du, was dort oben ist?"
Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, worauf er hinauswollte. „Keine Ahnung, was soll dort oben sein? Da ist die Decke, oder nicht?", antwortete ich irritiert.
„Ja klar", lachte er. „Aber was glaubst du, was hinter der Decke ist?" Lola trat grinsend einen weiteren Schritt auf die Wand zu.
„Ich weiß es nicht, Lola", sagte ich immer noch, ratlos, auf was er hinauswollte.
„Okay, dann zeige ich es dir", sagte er. Lola streckte sich, griff an die Decke und löste ein rotes, kleines Tuch. Eine kleine Luke kam zum Vorschein. Vorsichtig öffnete Lola die Luke und eine kleine Leiter kam zum Vorschein. Staunend stand ich daneben und sah Lola dabei zu, wie er die Leiter an der Luke befestigte. Lola drehte sich um und sah mein erstauntes Gesicht.
„Bitteschön, nach dir", sagte er übertrieben höflich, lachte, und schob mich in Richtung der Leiter. Ich zögerte.
„Na los, jetzt klettere schon", sagte er und nickte mir aufmunternd. Langsam erklomm ich eine Stufe nach der anderen, und was ich dann sah, ließ meinen Atem stocken.
Lola schloss die Luke hinter uns, er zog die Leiter zu sich herauf und stand neben mir auf dem Dachboden. Es roch nach alten Büchern und nach Staub. Überall standen, inmitten des dunkelbraunen, hölzernen Gewölbes, etliche Kisten voller Bücher. Auf dem Boden lagen überall kleine Zettel und Zeitungsfetzen herum. Eine kleine Maus huschte über den Boden. An der Seite des Raumes, in Richtung des Bahnhofs, war ein kleines Fenster angebracht.
„Lola, was machen wir hier?", fragte ich zunehmend irritierter. Doch Lola antwortete nicht und bedeutete mir zu folgen. Er lief direkt auf das Fenster zu, öffnete es und blickte nach draußen.
„Mach mir einfach nach, ja?", sagte Lola. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er vorhatte, doch irgendetwas sagte mir, dass ich ihm vertrauen konnte.
„Okay", sagte ich deshalb und beobachtete gespannt, was Lola vorhatte. Vorsichtig setzte er erst einen Fuß auf das Fensterbrett. Er drehte sich herum und stand mit dem Rücken zum Abgrund auf dem Fensterbrett.
„Lola, was machst du da?!", schrie ich. Er lachte.
„Keine Sorge, mir passiert nichts", sagte er cool. „Schau mal, hier ist eine kleine Leiter", sagte er, löste eine Hand vom Rand des Fensters, an dem er sich festhielt, und zeigte auf eine kleine Metallleiter, die an der Hauswand angebracht war. „Es sind nur fünf Stufen", sagte er. „Wir sehen uns oben." Dann begann er zu klettern, und ich stand allein auf dem Dachboden.
Verdammt, was Lola da machte, war lebensgefährlich! Doch was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen? Schließlich wartete er bestimmt schon auf mich, und bestimmt würde er es total feige von mir finden, jetzt zu zögern und ihm nicht nachzumachen. Ich schluckte und trat einen Schritt auf das Fenster zu. Es sind nur fünf Stufen, dachte ich mir. Dann griff ich nach dem Fenster, stützte mich an der Glasscheibe ab, und drehte mich herum, so wie Lola es getan hatte. Mein ganzer Körper zitterte und meine Hände waren klatschnass geschwitzt. In zwanzig Sekunden sollte ich oben sein, redete ich mir ein.
„Finley, alles okay? Kommst du bald, oder bist du schon runtergefallen?", rief Lola von oben.
„Ich komme gleich", rief ich, und mein Atem ging schneller.Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die erste Stufe.
Ruhig bleiben, Finley, nur noch vier Stufen.
Mein Fuß berührte die zweite Stufe. Gleich geschafft, nur noch drei Stufen, redete ich mir ein.
Ich spürte die dritte Stufe unter meinen Turnschuhen. Hastig versuchte ich, Luft zu bekommen.
Langsam setzte ich meinen Fuß auf die zweite Stufe. Jetzt bloß nicht nach unten schauen, dachte ich.
Ich hob mein rechtes Bein und setzte meinen Fuß auf die nächste Stufe. Die erste Stufe war nass, kalt und rutschig. Ich begann zu rutschen und verlor den Halt.
„Lola!!", schrie ich. Ich schloss die Augen. Ich wollte noch nicht sterben!
Plötzlich packte jemand meinen Arm und zog mich mit aller Kraft nach oben. Hart schlug ich auf der metallenen Kante, die das flache Dach des Hochhauses vom tödlichen Abgrund trennte, auf. Für ein paar Sekunden hörte ich nur, wie mein Herz mit aller Gewalt in meiner Brust pochte, als wollte es meine Rippen aufbrechen und hinaushüpfen.
„Finley", rief Lola plötzlich. „Bist du okay?" Langsam drehte ich mich herum und blickte in den riesigen, unendlichen Sternenhimmel. Was war gerade geschehen? Lola hielt meine Hand und atmete ganz ruhig.
„Lola", stammelte ich, und richtete mich langsam auf. „Was ist passiert?"
„Du bist abgerutscht", sagte Lola und senkte seinen Blick. „Ich konnte dich gerade noch am Arm packen und nach oben ziehen. Es tut mir so leid", sagte er leise. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich ihn anschreien sollte, oder ob ich ihm um den Hals fallen sollte und mich bei ihm bedanken sollte. Doch egal wie unverantwortlich diese Aktion von ihm war, er hatte mir das Leben gerettet.
„Danke", sagte ich leise.
„Geht es wieder?", fragte Lola besorgt.
Ich nickte schwach und sah mich um. „Jetzt sag mir aber endlich, wo wir hier sind, und was wir hier machen!", sagte ich entschlossen und setzte mich hin, mit dem Rücken zum Abgrund und dem Gesicht zu Lola, der auf einem kleinen, silbergrauen Lüftungsrohr saß, das aus dem Dach ragte.
Lola grinste. „Willkommen in der Sternwarte, Finley", sagte er.
Ich blickte mich um. Nichts sah wirklich so aus, wie ich mir eine Sternwarte vorstellte, bis auf die kleine, beige Satellitenschüssel, die neben dem Lüftungsrohr, auf dem Lola saß, angebracht war. Der Boden war mit grauen, kaputten Fliesen bedeckt, zwischen denen Moos hervorquoll. Ein paar verrostete Metallstücke lagen auf dem Boden, an manchen Stellen lagen vereinzelt kleine Glasscherben.
„Wo soll hier denn bitte eine Sternwarte sein, Lola?", fragte ich.
„Na, du sitzt mittendrin", sagte er, als sei es das Normalste auf der Welt.
„Schau mal nach oben", er streckte seine kleine Hand aus und zeigte auf die unendlich vielen Sterne am Himmel.
„Von hier aus kannst du die Sterne beobachten", erklärte er.
„Und hier oben ist es so schön ruhig und friedlich. Hier fühle ich mich richtig frei und bei mir selbst", sagte Lola.
Er setzte sich neben mich und legte seinen Arm um mich. „Deswegen wollte ich dir das hier zeigen. Weil ich mich hier richtig frei fühle. Und weil ich hoffe, dass du dich hier auch richtig frei fühlst."
Ich schwieg und wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Fühlst du dich hier oben auch frei?", fragte Lola, nachdem wir einige Sekunden der Stille gelauscht hatten. Unsicher, ob es die richtige Entscheidung war, nahm ich all meinen Mut zusammen und legte meinen Kopf auf Lolas Schulter.
„Ich fühle mich frei, wenn ich bei dir bin, Lola", sagte ich.Er lächelte.
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Plötzlich Erwachsen
Teen FictionFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...