Am selben Abend konnte ich nicht einschlafen. Immer wieder drehte ich mich in meinem Bett herum, doch ich fand keine Ruhe. Fragen über Fragen drehten sich in meinem Kopf. Es schien wie eine endlose Spirale aus Gedanken, die ich nicht durchbrechen konnte. Ich starrte schon seit mindestens einer Stunde an die Decke. Das Gespräch mit Lilly ging mir nicht aus dem Kopf. Sie wirkte auf mich so tapfer und selbstbewusst, trotz allem, was ihr passiert war. Warum konnten alle anderen Menschen, mit denen ich in letzter Zeit zu tun hatte so gut mit ihren Problemen umgehen? Warum konnte ich das nicht? Ich vergrub meinen Kopf in einem großen Kissen, ich wollte nicht mehr aufstehen. Machte es noch Sinn, sich jeden Tag durch ein Leben zu quälen, das sinnloser nicht sein könnte?
Mein Handy vibrierte. Es war bestimmt die Stufengruppe, dachte ich. Nichts besonderes, wahrscheinlich nur ein Bild von feiernden Jugendlichen, von denen, die nicht weinend in ihrem Zimmer auf ihrem Bett liegen mussten, weil sie es nicht schafften, aufzustehen. Ich griff trotzdem nach dem Handy, um die Benachrichtigungen auszuschalten. Doch als ich den Lockscreen meines Handys ansah, wurde meine Erwartung widerlegt. Da war keine WhatsApp, auch kein Snap, oder ähnliches. Da war keine Instagram-Benachrichtigung von irgendjemandem aus meiner Stufe, der ein Bild aus einer Kneipe oder einer Party postete! Da war das E-Mail-Zeichen, neben dem „1 neue E-Mail" stand. Wer schickte mir E-Mails? Aufgeregt entsperrte ich mein Handy, dann öffnete ich schnell das Emailprogramm. „Neue Nachricht", stand dort.
„Sehr geehrter Herr Sommer, vielen Dank für ihre Nachricht und ihr Vertrauen. Gerne kann ich Ihnen für ein Erstgespräch folgende Termine anbieten: Montag 6.3. 23, 16:00, Donnerstag 8.3. 15:30. Bitte geben Sie mir bescheid, welcher Termin für sie passt. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Michael Johnson, Psychologe und Psychotherapeut."
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Der Therapeut, den ich angeschrieben hatte, hatte mich nicht ignoriert, er hatte mich nicht auf irgendeine endlos lange Warteliste gesetzt, sondern mir einen ersten Termin angeboten. Schnell tippte ich eine Nachricht in mein Handy.
„Sehr geehrter Dr. Johnson,
Vielen Dank für ihre Nachricht. Bei mir passt der erste Vorschlag, am Montag 6.3. 23, 16:00.
Viele Grüße,
Erik Sommer."Als ich die Nachricht abgeschickt hatte, saß ich für einen Moment regungslos da. Regungslos vor erstaunen. Regungslos vom dem Gefühl der Hoffnung. Es war kein großes Gefühl, nur wie ein kleiner Funke, doch es war da. Was war gerade geschehen? Hatte ich wirklich einen Termin für ein erstes Gespräch bekommen? Zweifel stiegen in mir auf, doch der Bildschirm meines Handys zeigte mir unmissverständlich, dass ich mich nicht täuschte. Ich hatte es wirklich geschafft mir Hilfe zu suchen. Seufzend ließ ich mich nach hinten fallen. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen.
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Plötzlich Erwachsen
Novela JuvenilFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...