28. Ausgrenzen und dazugehören (tw)

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Am darauffolgenden Tag, ich hatte es immerhin geschafft zur Schule zu gehen, stand ich vor dem Aufenthaltsraum unserer Stufe. Ich blickte auf den Boden, war in Gedanken versunken. Gestern, als ich nach Hause gekommen war, hatte ich mich nur noch in mein Bett legen können und schlafen. Der Schlaf hatte mir gutgetan, ich hatte ihn wirklich gebraucht. Vielleicht sollte ich es einfach nochmal versuchen. Vielleicht sollte ich nochmal versuchen, dazuzugehören. Immer noch zögernd trat einen Schritt nach vorne und öffnete vorsichtig die Türe des Aufenthaltsraumes, in dem unsere Stufe die Pausen verbrachte. Im Raum sah es aus wie üblich. Um oder an den Tischen standen und saßen ein paar Gruppen aus Schülern und unterhielten sich. Ich hörte die Punktezahlen einiger Schüler und deren Enttäuschung darüber aus dem Gemurmel heraus. Langsam, unsicher und immer noch zweifelnd lief ich auf einen Tisch zu, dort standen einige Jungs aus meinem Jahrgang, mit manchen hatte ich auch ein paar Kurse gemeinsam. „Ey hast du das mit Luisa mitbekommen?", sagte ein Schüler zu einem anderen, der sich neben ihn gegen die Wand gelehnt hatte. „Nein, was ist mit ihr?", fragte der andere. Beide kannte ich nicht wirklich, sie gingen eben in meine Stufe. „Sie kommt nicht mehr in die Schule.", sagte der erste. „Gar nicht mehr?", fragte der zweite und zog irritiert eine Augenbraue hoch. „Nein, die ist in der Klinik, habe ich gehört...Die Eltern wissen schon bescheid, sie konnte nichts mehr essen...", sagte der erste und schüttelte den Kopf. „Dabei hatte sie so gute Noten, und als Außenstehender hat man es gar nicht gemerkt", fügte er hinzu. „Krass", sagte der zweite. „Hätte ich nicht erwartet..." Der erste nickte. Ich war schockiert. Luisa war in dieselbe Stufe wie ich gegangen, doch ich hatte nie Kontakt mit ihr gehabt. Das Einzige, was mir aufgefallen war, war das sie sich selbst sehr viel Druck gemacht hatte, was ihre Schulnoten betrifft. Dabei hatte sie eigentlich immer gute Noten. Solche Geschichten sind leider keine Seltenheit. Das zeigt, wie brutal unser Schulsystem mit uns umgeht, dachte ich. Irgendwie ist es richtig schockierend, zu sehen, wie jemand erst ein paar Tage fehlt, man denkt die Person sei einfach nur krank, doch dann stellt sich heraus, dass die Person es nicht mehr ausgehalten hat und die Schule verlassen hat. Man denkt dann sehr lange darüber nach, wann man, ohne zu wissen, was bald passieren würde mit der Person das letzte Mal im Unterricht gesessen hat, und keinen blassen Schimmer hatte, das dieser Unterricht der letzte gemeinsame sein sollte. 

"Ey, hast du das mit Erik gehört?", hörte ich plötzlich jemand hinter mir sagen. Ich drehte mich blitzschnell um, und sah, wie zwei Schülerinnen hinter mir die Türe des Aufenthaltsraumes schlossen und an mir vorbeiliefen. Leider hatte ich mich zu auffällig und zu schnell umgedreht, denn im nächsten Moment warfen sie mir vorwurfsvolle Blicke hinterher. Trotzdem sprachen die beiden. Sie waren ein paar Meter von mir entfernt, deswegen hatte ich Mühe ihre leisen Stimmen zu verstehen. Hoffentlich hatten sie mich nicht bemerkt. "Nein, was ist mit ihm?", fragte die andere Schülerin. "Er rennte jede zweite Stunde aus dem Klassenzimmer und heult", erzählte die erste. Ich kannte sie aus dem Geschichts-LK. "Immer muss jemand mitkommen und bei ihm bleiben, weil er sein Leben einfach nicht im Griff hat. Der Typ will nur Aufmerksamkeit", setzte sie fort. Ich schreckte auf und schüttelte mich kurz. Was passierte hier gerade?! "Ich finde das nicht gut, was er da macht.", sagte erste Schülerin, ich konnte sie kaum hören, weil sie mit dem Rücken zu mir stand. "Glaubst du, wir sollen das mal melden? Für die anderen aus seinen Kursen ist es echt blöd, wenn dich jemand ständig vom produktiven lernen abhält, weil er einfach nur Aufmerksamkeit braucht?", fragte die zweite. Für ein paar Sekunden hörte ich nichts, das Gesicht der ersten Schülerin konnte ich ja nicht sehen. Dann schüttelte sie den Kopf. "Ich glaube, dass sich die Sache schon bald von selbst erledigen wird und früher oder später die Personen, die ständig deswegen Unterricht verpassen sich von selbst beschweren werden.", sagte sie schließlich. "Okay", sagte die zweite. "Wie du meinst."

Ich war sprachlos und wütend zugleich. Was die beiden gesagt hatten stimmte nicht. Ich wollte keine Aufmerksamkeit. Doch ich schaffte es einfach noch nicht, alleine mit den Panikattacken zurechtzukommen. Gleichzeitig war ich froh, dass die beiden nicht hinter meinem Rücken gehandelt hatten und die ganze Sache so richtig offiziel gemacht hatten. Sonst hätte ich wahrscheinlich ein viel größeres Problem bekommen. Plötzlich näherten sich die beiden Schülerinnen der Türe. Schnell drehte ich den Kopf weg und machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Eigentlich hatte ich ja etwas anderes vorgehabt. 

Ich steckte meine Hände in die Hosentasche meiner Jeans und ließ meine Schultasche lässig über eine Schulter hinunterhängen. Möglichst cool wirken, dachte ich. „Hey", sagte ich und stellte mich neben einen der Jungs. Ein paar wenige nickten mir zu, viele blickten nur kurz auf, dann wendeten sie sich wieder ihren Gesprächen zu. „Wie war die Klausur bei euch? Irgendwas haben heute viele zurückgekriegt, oder?", fragte ich. „Psycho und Geo", sagte einer beiläufig, ohne mich anzuschauen und wandte sich wieder seinen Freunden zu. Reglos stand ich außerhalb der Gruppe. "Ich hoffe, ich schaffe es im Halbjahreszeugniss auf die 15 Punkte", sagte ein Schüler zu dem Typ, mit dem ich kurz zuvor geredet hatte. Fuck, die Halbjahreszeugnisse! Es dauerte nicht mehr lange, noch ein paar Wochen, dann war es soweit. Dann waren die Noten gesetzt, dann war unser Schicksaal besiegelt. "Nicht darüber nachdenken, Finley", redete ich mir ein. "Du musst noch funktionieren."

Auf einmal erkannte ich ein bekanntes Gesicht am anderen Ende des Raumes. Es war kein gutes, bekanntes Gesicht. Es war der ekelhafte Typ aus der Umkleidekabine im Sport, in der ersten Schulwoche. „Ey, Sommer, hau ab!", brüllte er, während er in großen Schritten auf mich zukam und mich grob in die Seite boxte. Ich wich zurück, war überfordert und wusste nicht wie mir geschah. Kurz stand ich einfach nur da, dann sah ich wie Lilly aus der Gruppe neben mir heraustrat und zuerst mich besorgt und dann die „möchte-gern" coolen wütend anblickte. „Das hab ich gehört", fauchte sie und kam auf die Jungs zu. „Lasst den Scheiß, klar?", setzte sie nach. Der ekelhafte Typ, der über seinen weißen Gucci Shirt eine silberne Halskette trug, kann ihr näher. Dann erblickte er das Logo eines Kampfsportlers, der heftig in die Luft trat auf ihrem T-Shirt und wich ein paar Zentimeter zurück. Lilly grinste überlegen und wandte sich mir zu. „Komm mit ", sagte sie und zog mich am Arm aus dem Raum. „Digga Lilly, das Weichei gehört halt einfach nicht dazu! Er heult jede zweite Stunde im Unterricht rum und kriegt einfach nichts auf die Reihe.", hallten die Worte des Typen noch lange in meinem Kopf. Kurz bevor wir die Türe des Aufenthaltsraumes erreicht hatten drehte sich Lilly noch einmal in Richtung des ekelhaften Typen um und rief: „Er ist kein Weichei!", dann schob sie mich aus der Türe und schloss diese hinter sich.



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