6. Die Chance

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Als es nach der Nachmittagsschule klingelte war ich unglaublich froh, dass ich endlich nach Hause konnte. Ich wollte ehrlich gesagt nur noch in mein Bett und schlafen. Unser Mathekurs verließ nach und nach das Zimmer im 3. Stock, ich schloss mich ihnen an. Mathe, plus Nachmittagsschule, dass konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Und schon gar nicht als 3-Stünder. Warum mussten alle Wissenschaftlichen Fächer mindestens 3-Stünder sein? Und warum musste ich in der B-Woche, also alle zwei Wochen gleich 2 Stunden, an zwei Tagen direkt hintereinander davon haben? Ich machte mich auf den Weg zum Fahrradständer. Auf dem Flur, ein paar Meter vor mir sah ich Mike. Er war nicht allein, ein hübsches, etwas größeres Mädchen lief neben ihm. Die beiden hielten Händchen und sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt.  Ich will auch, dachte ich. Schnell verließ ich den Gang und lief die Treppe hinunter. Am Fahrradständer angekommen schloss ich mein Fahrrad los, stieg auf und fuhr nach Hause.

„Ich bin wieder da!", rief ich und ließ die Türe hinter mir ins Schloss fallen.
„Na, wie war's?", fragte mein Vater, der gerade aus der Küche kam. Mein Vater, Andrew, stand im Flur, gegen die Wand gelehnt und blickte mich aufmerksam an. Heute trug er, wie so oft ein weißes Hemd, eine schwarze Jeans und Anzugschuhe. Er war ca. 1,90m groß, die perfekte Größe, um Basketball zu spielen, was seine große Leidenschaft war. Er war, genau wie meine Mutter 44 Jahre alt und wir teilten uns zu dritt eine 5-Zimmerwohnung in der Innenstadt.
„Es war ganz okay...", sagte ich und stellte meine Tasche ab.
„Aha? Was heißt okay?", hakte mein Vater nach.
„Es war halt anstrengend.", sagte ich, während ich meine Jacke auszog.
„Okay.", antwortete mein Vater und lief zurück in die Küche.
Ich stand alleine im Flur.
„Wo ist Mama?", beeilte ich mich, das Thema zu wechseln.
„Die hat noch eine Besprechung auf der Wache", sagte er.
Meine Mutter arbeitete als Kommissarin bei der Polizei und war deswegen sehr selten zuhause. Ich zog meine Schuhe aus. Seit meine große Schwester vor zwei Jahren Abi gemacht hatte und ausgezogen war, sah ich auch sie selten, was ich sehr schade fand.
„Ich geh mal ins Zimmer, okay?", sagte ich zu meinem Vater.
„Magst du nichts essen?", fragte er und blickte mich verwundert und gleichzeitig skeptisch an. „Ne, jetzt gerade nicht, danke.", sagte ich und lief zügig den Flur entlang, in mein Zimmer. Schnell schloss ich die Türe hinter mir, dann legte ich mich auf mein großes, grünes Bett, dass neben der Türe stand. Mein Zimmer war nicht besonders groß, an der Wand stand mein buntes, mit vielen Stickern beklebtes Skateboard, daneben der schrecklich chaotische Schreibtisch, auf dem unzählige Blätter herumlagen. Gegenüber dem Bett war ein Fenster mit Gardine das zum Balkon führte. An der Wand hingen Poster von Politikern, die hochkonzentriert wichtige Reden hielten. John F. Kennedy, Barack Obama, Martin Luther King, Menschen, die wirklich etwas bewegt hatten. Neben mir, auf dem kleinen hölzernen Nachttisch standen 3 Bilder. Ganz links, ein Bild von meinem Opa. Daneben ein Bild von meiner Oma und daneben ein Bild meiner Tante. Meine Großeltern waren zwei unglaublich wichtige Menschen für mich. Sie wohnten in Berlin, deswegen sah ich sie selten, was mich oft traurig machte. Ich zog das verschwitzte T-Shirt aus, nahm ein neues aus dem kleinen Kleiderschrank, der neben dem Bett stand und auf dem viele Sticker von Regenbogenflaggen klebten. Für einen kurzen Augenblick stand ich regungslos vor dem Spiegel und betrachtete mich. Dann wandte ich mich schnell ab und setzte mich auf mein Bett. Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah eine neue Mitteilung aus der Stufengruppe. Auch das war neu. Ich war noch immer den Spam aus der Klassengruppe gewöhnt. Jetzt gab es eine Stufengruppe, in der lediglich die wichtigsten Infos weitergeleitet wurden.
Ich öffnete WhatsApp, und las die Nachricht: Freitag, 19:00, Party bei Jan, im Vauban. Adresse kommt noch. Kommt alle vorbei, Drinks gibt's zu fairen Preisen. Bis Freitag! Ich legte das Handy weg und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Sollte ich hingehen? Das wäre eine gute Chance Freunde zu finden. Andererseits...was, wenn alles schief gehen würde? Mein Handy vibrierte erneut. Ich entsperrte das Display und las die Nachricht von Anna: Nice!! Bin dabei!!

Ich atmete tief durch. Okay. Ich auch, ganz, ganz sicher, dachte ich mir.


Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt