33. Der Tag der Wahrheit (tw)

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Einige Wochen später, an einem Freitagmorgen im Februar, es war noch dunkel draußen versuchte ich mich zu überwinden zur Schule zu gehen, denn heute wurden die Zeugnisse verteilt. Dieser Tag war einer der Tage, die am schlimmsten für mich waren, denn nun stand es schwarz auf weiß fest, wie viele Punkte ich in den einzelnen Fächern bekommen hatte – und noch viel wichtiger: ob die Punkte ausreichten, um keinen Unterkurs im Zeugnis zu bekommen. Mit nur 3 Stunden Schlaf kam ich an der Schule an, schloss mein Fahrrad an und begab mich auf den Weg in die Aula, wo Mike und Lilly, sowie Mikes Freundin Leni und Lola bereits warteten. Sie sahen ebenfalls müde und erschöpft aus, doch gleichzeitig wirkten sie angespannt und unruhig. Mike klopfte mir kurz auf die Schulter und lächelte, als ich die Gruppe erreichte. Dann drehte er sich wieder nach vorne und blickte gespannt auf das Rednerpult. Er sah sehr bedrückt aus. „Das wird schon bestimmt nicht so schlecht werden.", sagte ich und nickte ihm zu, wenn ich ehrlich bin wahrscheinlich mehr um mich selbst zu beruhigen. Als es klingelte, betrat ein großer, dicker Mann im karierten Hemd die kleine Bühne in der Aula. Er lief langsam zu dem großen Rednerpult und augenblicklich wurde es totenstill.

Der Mann war unser Schulleiter.

Er trug eine schwarze Anzughose und griff in seine Hosentasche, aus der er eine große, verbogene Brille beförderte. „So. Guten Morgen. Wie Sie wissen hatten Sie nun ein Halbjahr Zeit, um ihre Schulischen Leistungen zu erbringen. Ich möchte noch einmal betonen, dass alles, was sie hier leisten" – er machte eine theatralische Pause – "oder auch nicht leisten... in Ihre Abiturnote einfließt." Leises Gemurmel brach aus und stoppte sofort wieder, als der Mann am Mikrofon kurz Luft holte. „Um nicht zu viel Zeit des wertvollen Unterrichts zu verschwenden, folgt nun die Verlesung der Namen, danach kommen Sie bitte zügig zu mir nach vorne und holen sich ihre Halbjahresinformationen ab.", fuhr er fort. Er griff nach einem großen Stapel Papier, setzte seine Brille auf und nahm langsam das erste Blatt in die Hand. Für alle Bewegungen lies er sich unangenehm viel Zeit. „Michael Adams", begann der Direktor nun. Ein kleiner, dürrer Junge stand zügig auf, lief mit schnellen Schritten nach vorne, er griff schnell nach dem Blatt, dass ihm der Direktor mit einem skeptischen Blick entgegensteckte, dann machte sich der Junge wieder zurück auf den Weg zu seinem Platz. Ein Name nach dem anderen wurde verlesen, ein Schüler nach dem anderen machte sich zügig auf den Weg nach vorne und nahm das Zeugnis entgegen. „Erik Sommer", hörte ich den Direktor nun sagen. Ich zuckte heftig zusammen. „Komm schon, du schaffst das", hörte ich Mike hinter mir flüstern. Um nicht aufzufallen, tat ich es den anderen gleich und lief so zügig ich konnte nach vorne zum Rednerpult. Dann blieb ich stehen und stand dem Direktor gegenüber. Dieser blickte quälend lange auf das Blatt Papier in seinen Händen, dann schüttelte er den Kopf und blickte mich skeptisch an. Ich stand da, als wäre ich in Eis eingefroren. Auf einmal streckte er mir das Blatt hin. Ich griff danach, drehte es schnell um, sodass ich nicht sah, was daraufstand und machte mich auf den Weg zurück zu meinen Freunden.

Nach und nach bekamen auch meine Freunde ihre Zeugnisse. Lillys Zeugnis war sehr gut, sie hatte keinen Unterkurs und war verständlicherweise sehr stolz darauf. Auch Mikes Zeugnis war gut, er hatte in Mathe jedoch nur 3 Punkte. Ähnlich war es bei Lola, seine Noten befanden sich im Mittelfeld, er hatte genauso wie Mike in Mathe einen Unterkurs, außerdem war er in Bio nicht besonders gut.

Und mein Zeugnis?

Ich wollte es gar nicht anschauen, denn ich wusste, dass es ein schlechtes Zeugnis sein würde. Doch wie schlecht es wirklich war, das wollte ich gar nicht wissen. Leises Gemurmel hatte sich in der Aula ausgebreitet, die von den flackernden Scheinwerfern in ein komisches, unangenehmes Licht getaucht wurde. „Ist es sehr schlimm?", fragte Mike mich schließlich, als er sein Zeugnis in aller Ruhe angeschaut hatte. „Ich hab es noch nicht angeschaut.", entgegnete ich. Er nickte. „Okay.", sagte er. „Schau es dir an, wenn du dafür bereit bist." Ich nickte und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ein paar Meter neben mir stand Lilly. Sie schien glücklich, zufrieden und stolz auf sich zu sein. Neben ihr stand Lola, auch er lachte und umarmte Lilly. Doch nach meinem Zeugnis hatte er nicht gefragt, er hatte auch nicht zu mir hinübergeschaut. Plötzlich tönte die Stimme unseres Direktors durch die Aula. „Wie schon bereits erwähnt, werden Sie sich nun in den jeweiligen Fachunterricht begeben. Beeilen Sie sich, sonst vergeht wertvolle Unterrichtszeit.", sagte der Direktor und trat vom Rednerpult zurück. Ich blickte zu Mike, dieser rollte genervt mit den Augen. „Englisch.", sagte er und schüttelte genervt den Kopf. „Wirtschaft", sagte ich und rollte ebenfalls mit den Augen. Er nickte. „Okay. Bis später dann...", sagte er und klopfte mir im Vorbeigehen kurz auf die Schulter. Die Versammlung löste sich langsam auf und auch ich machte mich auf den Weg zum Unterricht. Immer wieder blickte ich mich um, Lola hatte genau wie ich Wirtschaft, doch er war nirgendwo im Gebäude zu sehen. Da ich nicht genügend Zeit hatte, um nach ihm zu suchen, lief ich zügig, das Zeugnis immer noch umgedreht in der Hand haltend in Richtung Unterricht.

Plötzlich wurde ich grob von hinten angerempelt und das Zeugnis wurde mir aus der Hand gerissen. „Erik mein bester!", rief eine ironische Stimme hinter mir, so laut, dass die Schüler, die um mich herum die Treppe hinaufliefen, aufmerksam wurden. „Na? Ein gutes Zeugnis gehabt?", hörte ich eine zweite Stimme. "Dann zeig mal her!" Beide Stimmen waren mir bekannt, sie gehörten zu den Jungs, die mich in der ersten Schulwoche des Schuljahres wegen meines Regenbogenarmbandes in der Umkleidekabine geärgert hatten. Doch dieses Mal stand ich alleine da. Dieses Mal war Mike nicht da und konnte mir nicht helfen. „Gib mal her, dann wollen wir mal sehen, was der kleine Herr Sommer für Noten hat!", rief der erste und riss dem zweiten das Zeugnis aus der Hand. „Also...Mathe: 3, Sport: 4, Deutsch: 6, Wirtschaft: 8...", begann er, meine Noten laut vorzulesen. „Hey, ich will auch mal!", rief der zweite und riss seinem Freund das Zeugnis aus der Hand. „Bio: 10...Wow, du bist ja ein genialer Naturwissenschaftler!", rief er ironisch. Die beiden lachten schallend und grinsten in Richtung der Menschenmenge, die sich um das Geschehen herum angesammelt hatte. „Literatur und Theater: 11. Wow, du bist ja so talentiert, zuerst hast du starke 10 Punkte in Bio und dann zeigst du dein großes Schauspieltalent.", lachte der erste. "Ey, Ey, warte mal", sagte der zweite plötzlich. "Was macht Erik Sommer eigentlich im Winter?!" Für eine Sekunde war es totenstill. "Oh nein, er kriegt eine Winterdepression", rief der erste. Er brach in schallendes Gelächter aus und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Für einige Sekunden blickte ich ihn an, als wollte ich ihn mit meinem Blick töten. Dann beschloss ich, zu handeln und mir diese Schikane nicht mehr bieten zu lassen. „Stop!", schrie ich und trat einen Schritt auf die beiden zu. Ich wusste zwar nicht, woher ich diesen Mut hatte, doch ich zögerte nicht lange. „Gib mir das Zeugnis zurück!", rief ich. „Nö", antwortete der Junge, der mein Zeugnis in der Hand hielt. Er sprach provokant ruhig. Dann zog er mir das Blatt vor der Nase weg. „Doch", antwortete ich, genauso provokant ruhig wie er, riss ihm mein Zeugnis aus der Hand und rannte in Richtung des Zimmers, in dem ich Unterricht hatte. Im wegrennen hörte ich das laute Gelächter der Jungs, die in die Hände klatschten und auf mich zeigten. "Fick dich, Erik", brüllte einer der Jungs in der Ferne.

Völlig verschwitzt kam ich im Zimmer an und lehnte mich kurz gegen die Wand, um zu verschnaufen. Lola saß bereits an seinem Platz, ruhig und still. Ich setzte mich neben ihn. „Hey, wo warst du? Ich hab dich gar nicht gesehen!", sagte ich. Lola griff in seine Tasche und legte seinen Collageblock langsam auf den Tisch. „Ich war noch kurz mit Leni auf dem Klo. Wieso?", sagte er ruhig und blickte mir tief in die Augen. „Ähm...

ach so, okay.", sagte ich. „Ich hab dich gesucht...", fügte ich hinzu und begann ebenfalls, meine Sachen auszupacken. Lola nickte einfach nur, dann wandte er seinen Blick in Richtung der Tafel. Ich blickte ihn weiterhin an, doch er drehte sich nicht mehr zu mir. Es wurde nach und nach ruhiger im Raum und der Lehrer begann mit dem Unterricht. Lola saß immer noch auf seinem Platz und blickte starr an die Tafel. Irgendetwas stimmte nicht mit Lola. Er war viel ruhiger als sonst. Doch es machte keinen Sinn ihn jetzt, während des Unterrichts darauf anzusprechen. Ich musste auf den richtigen Moment warten.

Eine Stunde später klingelte es und Lola packte zügig seine Sachen zusammen. „Ich geh nochmal zu Leni", sagte er und verließ schnell das Zimmer. Ich blickte ihm nach. „Okay...", murmelte ich. Doch das hörte er bereits nicht mehr.


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