42. Glasscheibe (tw)

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Finley

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fiel das Licht der Morgensonne durch das Fenster in mein großes, weißes Zimmer. Für einen Moment realisierte ich nicht wirklich, was gestern geschehen war. Doch es war wirklich so, wie der zweite Eindruck mir sagte: ich war in der Psychiatrie. 3 Wochen mindestens, wenn nicht sogar 4 Wochen, hatte mir der Arzt gesagt, nachdem er sich nochmal ausführlich mit seinen Kollegen abgesprochen hatte. Es war wohl besser so. Von nun an, zumindest für die nächste Zeit betrachtete ich die Welt durch eine Glasscheibe. Ich setzte mich in meinem Bett auf, ehrlich gesagt wollte ich nicht aufstehen. Doch es war bereits 7:55, um 8:00 musste ich beim Frühstück sein. Vorsichtig versuchte ich aufzustehen, doch es war kaum möglich. Mein Kopf schmerzte zu sehr. Langsam zog ich die Jogginghose und das T-Shirt aus, in dem ich geschlafen hatte. Dort stand ich nun, vor der Glasscheibe des Fensters und blickte auf das, was von mir noch übriggeblieben war: ein dünner, abgemagerter und zerbrochener Mensch. Schnell zog ich mir meine Hose an, ein T-Shirt und einen Pullover über den Kopf, dann lief ich zur Türe und trat hinaus auf den Gang.

Das gesamte Gebäude wirkte steril, desinfiziert und seltsam sauber. Im Flur, der von weißen, leeren Wänden umgeben war, liefen außer mir noch viele andere Jugendliche in Richtung des Speisesaals. Ich folgte ihnen und lief durch den langen Flur. An den Seiten des Ganges, dessen Ende so weit weg war, dass ich es nicht sehen konnte, waren unzählbar viele Türen angebracht, die zu verschiedenen Behandlungsräumen oder Sprechzimmern führten. Ein dünnes Mädchen lief an mir vorbei, auf der anderen Seite des Flures schob ein Pfleger einen Jungen im Rollstuhl, der beide Arme in einen dicken Gipsverband gepackt hatte. Von überall drangen Stimmen zu mir, Ärzte liefen hektisch auf und ab und telefonierten ununterbrochen. Das einzige, was etwas Ruhe und Hoffnung schenkte, waren die vielen bunten Bilder, die die jüngeren Patienten gemalt und an den Wänden aufgehängt hatten. Im Speisesaal angekommen, stellte ich mich in die lange Schlange vor dem Buffet. Eigentlich hatte ich keinen Hunger, doch ich musste etwas essen. Alles war voll mit Lampen und hell erleuchtet. Die Schlange rückte weiter nach vorne. Auch hier, im Speisesaal, waren die Wände hell und weiß, überall lief Krankenhauspersonal herum und an den Tischen aßen etwa 100 Jungen und Mädchen resigniert ihr Frühstück. Viele waren ungefähr so alt wie ich, manche waren etwas jünger, und ein paar Jungen und Mädchen waren dabei, die in Begleitung ihrer Eltern am Tisch saßen. Sie mussten ungefähr 12 oder 13 Jahre alt sein. Nun war ich an der Reihe. Ich legte mir ein Brötchen und einen kleinen Klotz Butter auf meinen Teller, dann schenkte ich mir ein Glas Wasser ein und setzte mich an einen freien Platz. Ich starrte einige Sekunden auf meinen Teller, dann begann ich langsam zu essen.

Nach dem Frühstück lief ich zügig in mein Zimmer, um auf meinen Tagesplan zu sehen. Ich hatte ein Zimmer, in dem zwei Betten standen, doch das zweite war leer. Auf meinem Plan stand, dass ich um 9:00 Therapie hatte. Ich hatte also noch eine halbe Stunde Zeit. Nachdem ich mir einen Wecker gestellt hatte, legte ich mich nochmal in mein Bett und griff nach meinem Handy. Auf dem Sperrbildschirm blinkte eine neue Nachricht auf. Lola hatte mich gerade eben versucht zu erreichen. Schnell tippte ich auf das Kamerasymbol und startete einen Videoanruf.
„Finley, wie geht es dir?", fragte Lola sofort, als sein Bild auf dem Bildschirm erschien.
„Es geht so...", sagte ich.
„Ich hab keinen Hunger, ich bin müde und überfordert..."
„Aber ich habe in einer halben Stunde Therapie. Vielleicht hilft das."
Lola nickte. Im Hintergrund sah ich sein Zimmer, er saß auf seinem Bett und hatte sich zurückgelehnt.
„Soll ich dich morgen besuchen kommen?", fragte er.
„Oh ja, bitte!", sagte ich und nickte aufgeregt.
Lola grinste.
„Okay mein Schatz. Mach ich. Ich komme morgen Nachmittag nach der Schule direkt vorbei, ja?", sagte er.
Ich nickte.
„Danke, Schatz", sagte ich.
Noch immer fiel mir das Sprechen schwer, ich hatte bei jedem Wort das Gefühl, weinen zu müssen.
Lola blickte mich besorgt an.
„Bist du okay?", fragte er schließlich.
Ich nickte schwach.
„Ich glaube, es geht. Aber ich weiß nicht, wo der Raum ist, in dem ich Therapie habe. Das muss ich noch irgendwie herausfinden...", sagte ich.
Er nickte.
„Das findest du bestimmt noch heraus. Du hast schließlich noch eine knappe halbe Stunde Zeit.", sagte er und lächelte.
Ich nickte und lächelte kurz. Lola blickte mich aufmerksam und besorgt zugleich an.
„Finley, du schaffst das gleich, ja? Die sind bestimmt ganz nett zu dir.", sagte er und nickte aufmunternd.
Ich atmete einmal tief durch.
„Okay. Ich versuche es. Sehen wir uns morgen?", fragte ich.
„Ja. Und ich schicke dir nachher noch eine Gute-Nacht-Geschichte, okay?", antwortete er.
Ich lächelte.
„Danke", sagte ich.
„Hab dich lieb", sagte Lola und winkte zum Abschied.
„Ich dich auch", sagte ich und winkte ebenfalls. Dann legten wir auf.

Um 8:57 stand ich vor einer Glastüre, die in den Raum führte, in dem ich gleich mein erstes Therapiegespräch stattfinden sollte. Ich war sehr aufgeregt, doch gleichzeitig auch etwas mehr zuversichtlich, dass ich nun endlich die Hilfe bekommen sollte, die ich schon lange brauchte. Um 9:00 Uhr öffnete sich die Türe schließlich und ein Arzt im weißen Kittel und einer großen, runden Brille stand vor mir. Er hatte blonde, kurze Haare und ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. „Hallo Erik, komm bitte rein und setz dich!", sagte er und nickte mir aufmunternd zu. Ich betrat den Raum und setzte mich auf den Stuhl, auf den der Arzt zeigte. Der Raum war groß, die Wände waren weiß. Ein Fenster öffnete den Blick auf die Rasenfläche im Hof der Klinik. An den Wänden hingen ein paar minimalistische, abstrakte Gemälde, ansonsten stand ein Schreibtisch mit Computer an der Wand. Der Arzt setzte sich mir gegenüber. „Okay, Erik. Ich bin Dr. Stark. Ich werde, solange du hier in der Psychiatrie stationär bist, dein Therapeut sein. In unserem Gespräch heute Morgen werde ich dir einige Fragen zu dem Vorfall letzte Woche stellen, damit wir verstehen können, warum das passieren konnte.", erklärte der Arzt. „Ist das in Ordnung für dich?", fragte er. Ich nickte. „Okay", sagte der Arzt und griff nach dem Klemmbrett, das auf dem Tisch neben ihm lag. „Das Gespräch wird auch nicht so lange dauern wie unsere zukünftigen Termine, sondern es geht darum, dass wir beide uns erst einmal kennenlernen. Ist das in Ordnung für dich?", fuhr er fort. Ich nickte erneut. „Gut, dann fangen wir an. Du bist am Donnerstagabend mit deinem Freund Mike ins Krankenhaus gekommen. Er hat dem Arzt berichtet, dass er dich auf dem Geländer der Brücke am Hauptbahnhof in Freiburg gesehen hat. Für ihn hatte es so ausgesehen, als wolltest du von der Brücke springen.", sagte der Arzt. Er blickte mich fragend an. „Wolltest du springen, oder hat sich Mike getäuscht?" Ich schwieg und wusste nicht, ob ich einfach sagen sollte, was passiert war, oder ob ich weiterhin versuchen sollte, alles zu verstecken. Doch auf der anderen Seite, dachte ich mir, hatte ich nichts mehr zu verlieren. Ich hatte schon so viel durch mein Schweigen verloren. Es war wohl Zeit, die Glasscheibe zu durchbrechen. Langsam nickte ich. „Okay", sagte der Arzt, atmete tief durch und schrieb etwas auf das Blatt, das auf seinem Klemmbrett befestigt war. „War dein Versuch zu springen eine spontane Kurzschlussreaktion oder hattest du es schon länger geplant?", fragte der Arzt weiter. „Ich hatte es tatsächlich schon einmal versucht.", sagte ich. „Es war schon länger geplant. Ich wollte vor ein paar Monaten in einer Nacht von meinem Balkongeländer springen. Doch mein Vater hat mich entdeckt, deswegen habe ich es nicht zu Ende gebracht.", sagte ich. „Und wie hat dein Vater in dieser Situation reagiert?", fragte der Arzt. „Ich habe ihm gesagt, dass ich krank sei und mich erkältet hätte, und dass ich nicht schlafen konnte und frische Luft schnappen wollte. Er war misstrauisch, weil ich mich am selben Tag noch mit Freunden getroffen hatte, und ist schließlich gegangen.", sagte ich. „Glaubst du, er hat durchschaut, was du vorhattest?", fragte der Arzt. „Ich weiß es nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass er es zumindest ein bisschen durchschaut hat.", sagte ich. Der Arzt nickte und schrieb alles mit. „Dein Freund Mike hat den Sanitätern im Krankenwagen mitgeteilt, dass er das Gefühl hat, dass die Schule dich sehr stark belastet. Er meinte, dass er dich am Anfang der 11. Klasse kennengelernt

hat und dass du mit dem Verlauf des Schuljahres immer mehr darunter gelitten hast, dass du in die Schule gehen musst. Stimmt das, oder täuscht sich Mike damit?", fragte der Arzt. Ich nickte und antwortete: „Mike hat Recht." „Fühlst du dich hier, bei uns sicher, Erik?", fragte der Arzt besorgt. „Ja", sagte ich. „Auf jeden Fall." „Okay, Erik. Das reicht schon, gut, dass du mir das erzählt hast. Ich gebe dir noch ein Blatt mit, das du bitte bis morgen ausfüllst.", sagte er und gab mir ein gelbes Blatt, auf dem viele Fragen und Kästchen standen, die man ankreuzen musste. Ich nickte. „Wir sehen uns morgen wieder, Erik", sagte er. „Dann können wir etwas länger miteinander sprechen." Er stand auf, gab mir die Hand und lief in Richtung der Türe. „Hast du noch eine Frage, oder einen Wunsch?", fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Okay. Dann bis morgen", sagte er und öffnete die Türe. „Bis morgen", sagte ich leise und verließ den Raum.

Ich war froh, dass ich endlich gesprochen hatte.

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