23. Lilly

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Am darauffolgenden Donnerstag klingelte es zur 8. Stunde. Ich hatte Religionsunterricht. Neben mir saß Lilly, fokussiert auf die Tafel blickend. Unsere Religionslehrerin, eine verpeilte, etwas ältere Frau saß vor ihrem Computer und schien etwas zu suchen und es nicht zu finden. Typische Inkompetenz bei Lehrern eben. Das Licht warf durch die beschmutzten Fenster ein paar dunkelgelbe Schatten in den Raum. Hinter mir murmelten ein paar Leute, ansonsten war es seltsam still. Mein Blick fiel auf den Tisch, an dem ich saß. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr der Tisch wackelte. Die Knie der Schüler aus meiner Reihe zitterten heftig, sie trafen immer wieder den Tisch, wie ein Erdbeben wirkte es, und nach und nach wurde mir bewusst, wie viele Menschen versuchten, ihre Anspannung zu unterdrücken, um nicht „peinlich" oder „störend" zu sein. Lilly blickte nun ebenfalls auf den Tisch. Sie wieder die Jogginghose, die sie in der Mathestunde letztens getragen hatte, die Jogginghose, die mit vielen kleinen Sternen bedeckt war. „Passiert hier eigentlich irgendetwas?", fragte sie gelangweilt und lachte kurz auf. Ich lachte und zuckte mit den Schultern. Es war mir ehrlich gesagt mehr als recht, wenn es noch dauerte, bis der Unterricht  richtig anfing.

Die Gespräche im Raum wurden lauter, Lilly wandte sich mir zu. „Und, was haben deine Eltern zu deiner Matheklausur gesagt", fragte sie. Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Nichts, ich hab's ihnen nicht erzählt." Lilly nickte, und sagte: „Ist wahrscheinlich besser so, Eltern haben sowieso meistens kein realistisches Bild von Schulnoten, sie haben es ja nicht so erleben müssen wie wir." „Aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich hätte es ihnen sagen sollen.", sagte ich. „Du musst niemandem irgendetwas sagen, es genügt schon, dass unser Mathelehrer so unprofessionell reagiert hat. Da brauchst du nicht noch den Ärger von deinen Eltern. Ich kenne das nämlich." „Wie meinst du das", fragte ich. „Ich lebe bei meiner Tante. Als mein Vater gestorben ist, wurde mein Verhältnis zu meiner Mutter immer schlechter, bis ich ausgezogen bin. Und trotzdem, trotz, dass ich bei meiner Tante lebe, will sie immer noch alles wissen, meine Schulnoten, wann ich mich mit wem treffe...", erzählte Lilly. „Doch meine Tante hilft mir, damit klarzukommen. Deswegen meinte ich gerade, dass ich das mit den Schulnoten verstehe. Eine einzige Zahl hat niemals so viel Macht, über deine Zukunft zu entscheiden. Doch viele denken es wäre so.", setzte sie fort. Ihre Worte, sickerten durch mich durch, langsam merkte ich, wie sehr sie Recht hatte. Eigentlich, dachte ich, ist es schrecklich, wie sehr wir in unserer Gesellschaft darauf gedrängt werden, so etwas zu glauben, und kaum jemand schafft es, daraus auszubrechen. Schon als kleine Kinder, in der Grundschule, aber noch mehr spürt man es, wenn man so kurz vor dem Abitur steht.

Doch Lilly hatte Recht.

Ich war sprachlos und wusste immer noch nicht, was ich antworten sollte. „Wo wohnst du denn?", versuchte ich die angespannte Stimmung aufzulockern. „In Freiburg, im Heldenviertel. Und du?", fragte sie. Relativ in der Stadtmitte", antwortete ich. Irgendwie war Lilly schon cool. Schon krass, ging es mir in diesen Tagen immer wieder durch den Kopf, dass ich mit dieser Person jahrelang in einer Stufe gewesen bin, und wir kein Kontakt hatten. Erst jetzt, doch lieber spät als nie. Ein Moment lang war es still. „Machst du eigentlich Kickboxen?", fragte ich schließlich. Ja, wie kommst du drauf?", fragte Lilly zurück. „Ich hab's auf deinem T-Shirt gesehen. Die Figur sieht aus wie ein Boxer", antwortete ich. „Ja, dreimal in der Woche gehe ich ins Training." Ich wollte gerade etwas fragen, doch Lilly sagte schnell: „Und du?" „Ich fahre gerne Skateboard. Und ich gehe manchmal mit dem Hund joggen." „Cool", sagte sie. Mein Blick fiel erneut zu dem Boxer auf ihrem T-Shirt und ich musste grinsen. Erst jetzt erkannte ich, was der Boxer auf seiner Sportkleidung trug. Es war eine Regenbogenflagge. Auf dem Boxhandschuh war ebenfalls eine zu sehen. 

Ich musste lächeln.


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