37. Ein letztes Mal (tw)

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Nach einer weiteren, schrecklichen Schulwoche stand ich am kommenden Donnerstag wieder am Bahnhof, ich wollte Lola besuchen gehen. Es war bereits früher Abend, die Sonne war schon fast untergegangen. Vor mir streckten sich die Abstellgleise des Bahnhofes scheinbar endlos in die Ferne. Unter der Brücke neben den Straßenbahnhaltestellen waren die silbergrauen Oberleitungen befestigt, von denen die Züge ihren Strom nahmen. Es waren nicht besonders viele Menschen an der Straßenbahnhaltestelle auf der Brücke über den Gleisen. Nur wenige Studenten, ein paar ältere Menschen, eine Frau mit Kinderwagen. Vor der Fast-Food Bude stand ein junger, dicker Mann, der sich eine Currywurst in den Mund schob. Es war nicht mehr lange, dann würde die nächste Klausurenphase beginnen und mit ihr die nächste schreckliche Zeit, vor der ich jetzt schon Angst hatte, auch wenn es noch einige Wochen hin waren. Welchen Sinn hatte es, so zu leben? Zu leben, mit der ständigen Angst vor Ereignissen, die noch viele Wochen in der Zukunft lagen?

Was wäre schmerzhafter? Auf die Oberleitung zu klettern oder auf die Gleise zu springen?

Ich trat einen Schritt auf das Geländer zu, dass die Brücke sicherte. Auf der Brücke gegenüber saßen auch ein paar Leute, eigentlich dürfte mich niemand bemerken, denn auf der Brücke gegenüber saßen die Menschen sogar auf den riesigen, hohen Pfeilern der Brücke und ließen die Beine baumeln. Es hatte keinen Sinn mehr. Langsam setzte ich mich auf das Geländer und streckte die Beine aus. Eine Träne floss mir über die Wange.

Ein letztes Mal die Welt sehen, ein letztes Mal die Beine baumeln lassen, so wie die Studenten auf der Brücke gegenüber es taten.

Und dann?

Ich hatte beide Hände um die Metallstange geklammert, dann ließ ich erst eine Hand los, verlagerte mein Gewicht nach vorne, dann löste ich den Griff der rechten Hand und saß nun wirklich nur noch mit meinem Gleichgewicht auf dem Geländer. Mein ganzer Körper zitterte und bebte vor Angst. Ich würde auf 3 zählen, und dann, dann würde ich springen und alles beenden.

Dann war es endlich vorbei.

„ERIK?!?!", riss mich eine laute Stimme aus dem dunklen Tunnel, in dem sich meine Gedanken befanden. So schnell ich konnte ergriff ich die Metallstange wieder. „ERIK, WAS MACHST DU DA?!", rief die Stimme erneut. Ich öffnete die Augen und blickte mich um. Unten, am Rand der Abstellgleise stand eine kleine Gestalt und winkte mir. „KOMM DA RUNTER, BEVOR DIR WAS PASSIERT!!!", schrie die Stimme. Erschrocken, über die plötzlichen Rufe, setzte mein Kopf aus, ich drehte mich um und sprang von der Mauer.

Ich stand auf der Seite der Straßenbahnhaltestelle. Immer noch zitternd lehnte ich mich an das Geländer und versuchte Luft zu bekommen. Nach ein paar Minuten wurde mein Atem ruhiger. Irgendetwas in mir drin veranlasste mich, den Rufen nachzugehen. „HIER UNTEN BIN ICH, HIER!!!", rief die Stimme und die Person winkte. Ich stolperte die Treppe hinunter, zu den Gleisen, dann erkannte ich, wem die Stimme gehörte. Es war Mike, der auf einem der großen, verrosteten Metallrohre neben den Abstellgleisen saß. Ich weiß nicht, woher ich in diesem Moment den Mut hatte, dass „Durchgang strengstens verboten" Schild zu ignorieren, doch irgendetwas sorgte dafür, dass ich einfach nur noch lief, so schnell ich konnte. „ERIK?!", rief er aufgebracht, als ich mich ihm näherte, schnell das letzte Gleis vor dem Mike saß überquerte und durch das Moos und die überwucherte Erde neben den Gleisen lief. Er hatte seine blaue Kapuze abgenommen und nahm seine Hand aus der Hosentasche seiner grauen Jogginghose, um mir zu helfen, über das Gleis zu kommen. In der anderen Hand hielt er eine Zigarette, die er nun schnell wegwarf und auf dem Moos, das um die Gleise gewachsen war, austrat. "Mensch, Erik, was machst du denn da oben?", fragte er und schüttelte fassungslos den Kopf. Nun erkannte ich sein besorgtes Gesicht. „Setzt dich mal zu mir", bat er. Ich setzte mich neben ihn. „Was wolltest du gerade machen?!", fragte er besorgt doch gleichzeitig aufgebracht und legte seinen Arm um mich. „Nix.", log ich. „Mensch Erik, was zum Teufel ist los mit dir, du zitterst ja total!", rief Mike, schüttelte mich und seine Stimme überschlug sich fast. „Mir ist nur kalt", log ich erneut. Mike zog sein Pullover aus und legte ihn um mich, doch das Zittern hörte natürlich nicht auf. Hektisch blickte ich mich um. Ich hatte es noch nicht geschafft. Es war noch nicht vorbei. Leider.

In der Ferne, neben der untergehenden Abendsonne sah ich die Lichter eines einfahrenden ICEs.

Das war meine Chance.

Ich spürte, dass mir alles egal war. Wirklich alles. Doch gleichzeitig verspürte ich das Bedürfnis mit jemandem zu sprechen, und meine Entscheidung irgendjemandem zu erklären. „Mike, ich will dir etwas sagen.", begann ich schließlich. Der Zug kam näher. Mike drehte sich zu mir und stellte den Energydrink neben sich, den er in der Hand gehalten hatte. „Ich bin bereit, sobald du bereit bist, mein Freund", sagte er und lächelte. Der ICE kam näher, mir blieb nicht viel Zeit. „Ich war beim Therapeuten. Er hat mir einen Untersuchungsbogen für Depressionen und Angststörungen mitgegeben, und sehr wahrscheinlich bin ich von einem der beiden Sachen oder von beiden betroffen.", begann ich. Mike hatte seinen Arm wieder um mich gelegt, doch ich schüttelte ihn weg. „Ich kann zurzeit kaum noch zur Schule gehen", schluchzte ich. „Ich habe so sehr Angst davor. Jeden Morgen ist mir übel und ich kann nichts essen. Und ich kann nachts kaum noch schlafen, ich kriege zurzeit nur noch Unterkurse.", weinte ich. Mike saß stumm neben mir. Über sein freundliches Gesicht, auf dessen flacher Stirn sich nun Sorgenfalten ausgebreitet hatten, rollte eine Träne.

„Mike, ich muss jetzt gehen", sagte ich und stand auf. Ich spürte, wie jemand nach meinem Arm griff. Doch ich riss mich wütend los und rannte auf den einfahrenden Zug zu.

Eine Hupe ertönte, die ich nur wie aus weiter Ferne wahrnahm.

Dann, ein harter Aufprall.

Stille.


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