Nach Hause?

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Es war der wohl ruhigste Moment seit Monaten, als ich am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang auf dem Balkon saß und über die Stadt blickte. Ein leichter Wind wehte, es war noch angenehm kühl. Seit ungefähr 5 Uhr hatte ich nicht mehr schlafen können, deswegen hatte ich beschlossen, den Sonnenaufgang anzuschauen. Mittlerweile war es kurz nach 6 Uhr und ich streichelte Laura, die Katze meiner Großeltern, die auf meinem Schoß lag und sich auf der Decke, mit der ich meinen Körper warmhielt, eingekuschelt hatte. Das Alleinsein war nicht mehr so schlimm, wie noch vor ein paar Monaten, und ganz genau betrachtet war ich ja schließlich gerade auch gar nicht alleine. Die Vögel zwitscherten, aus dem Club, der sich im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hochhauses befand liefen gerade die letzten Gäste heraus. Bereits übermorgen sollte ich den Heimweg antreten, und zurück nach Freiburg fahren. Allein daran zu denken, fiel mir schwer, doch ich hatte keine andere Möglichkeit. Das Einzige, was es etwas erträglich machte, war die Vorfreude, Lola wieder zu sehen. Aber gleichzeitig wollte ich keinesfalls weg von meinen Großeltern. Ich hatte die beiden so vermisst und es tat mir so gut, sie wiederzusehen. Außerdem war, seit meinem Absturz zuhause nichts mehr normal.

Doch leider konnte ich die Zeit nicht zurückdrehen.
Und gleichzeitig, dachte ich, vielleicht war es auch besser so.

Ich drehte meinen Kopf auf die andere Seite und sah, wie sich das Licht der aufgehenden Sonne in der riesigen Glaskuppel des Bundestages brach. Dort wurden so viele Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, die das Leben meiner gesamten Generation beeinflussten, Entscheidungen, die aber auch oft ungerecht waren. Doch hier auf dem Balkon, in der aufgehenden Morgensonne wirkte alles irgendwie seltsam normal. Normalität war ich schon lange nicht mehr gewöhnt. Was, wenn Lola jetzt bei mir sein könnte? Dann würde ich mich zumindest ein bisschen normal fühlen. Wahrscheinlich würde er dann auf meinem Schoß sitzen, er hätte sich an mich gekuschelt und wir wären uns ganz nahe. Doch leider war er weit weg von mir. Für einen Moment schloss ich die Augen und stellte mir Lola vor, wie er aus der kleinen Türe zum Balkon lief, und sich zu mir setzte. Ich erkannte ihn ganz genau, wie er vor mir stand. Vielleicht, dachte ich, war es doch nicht so schlecht, bald wieder nach Freiburg zu fahren und ihn wiederzusehen. Die Katze richtete ihren Kopf auf und gähnte genüsslich.
„Bleib noch ein bisschen bei mir, bitte", flüsterte ich.
Als ob mich die Katze verstanden hätte, streckte sie ihre Pfoten von sich und kuschelte sich wieder auf der Decke ein. Ich streichelte ihr behutsam über den weichen, kleinen Kopf. Damals, dachte ich, in der 8. Klasse, da war alles noch normal gewesen, da hatte ich mich noch gefreut zur Schule zu gehen. Doch jetzt war alles anders. Oft frage ich mich, wann der Tag war, an dem ich das letzte Mal zur Schule gegangen bin und noch alles normal war. Lange überlegte ich, doch ich kam zu keinem Entschluss. Denn, was ist schon normal? Wahrscheinlich werde ich es nie wissen. Doch war das wirklich so schlimm?


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