20. Absturz, erster Teil (tw)

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Es war wieder Montag. Ein schrecklicher Tag, dieser Montag, an dem die gesamte Woche noch vor mir lag und ich nicht den kleinsten Schimmer Hoffnung hatte, alles, was mich zerdrückte, zu überstehen. Doch an diesem Montag passierte etwas, das ich nicht erwartet hätte. Genauer gesagt, dieses Ereignis hatte mich so stark getroffen, dass ich danach drei Tage nicht mehr zur Schule gehen konnte. Dabei hatte der Tag tatsächlich ganz gut angefangen; ich hatte es geschafft, zur Schule zu gehen. Doch als ich dort war, als ich in der Englischstunde saß, passierte es. Ich saß im Unterricht und starrte an die Tafel. Was der Lehrer erzählte, das Gemurmel der anderen, die Lautstärke im Raum, das nahm ich gar nicht mehr wahr. Ich befand mich in einem Kampf gegen mich selbst. In einem Kampf, in dem es einzig und allein darum ging, nicht aufzugeben. „Nicht aufgeben, nicht aufgeben", redete ich mir ein. Niemand von außen sah, was sich anbahnte; selbst ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich einschätzen, was mir bevorstand.

Plötzlich ging mein Atem schneller, mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Zuerst verlor ich das Gefühl in den Händen und Beinen, dann begannen diese heftiger und heftiger zu zittern, immer schneller, immer heftiger, es war ein unbeschreibliches Gefühl der Angst und der Verlorenheit, ich schrie innerlich um Hilfe, doch es hörte mich niemand. Ich begann immer schwerer zu atmen, immer schneller, immer heftiger. Auf einmal stand jemand hinter mir. In meiner Panik konnte ich die Person nicht erkennen.
„Wir gehen raus, komm!", sagte jemand zu mir und packte meinen Arm.
Die Stimme klang wie aus der Ferne. Irgendjemand half mir, aufzustehen, und stützte mich, bis ich draußen war. Alles war laut, laut und eng, alles flimmerte vor meinen Augen, die blitzschnell zuckten.

Dann war es plötzlich still.

Ich lag zitternd auf dem Boden, langsam kam das Gefühl in meine Hände zurück, nach ein paar Sekunden spürte ich die Finger wieder, ich richtete mich auf. Neben mir stand Lola und neben ihm mein Englischlehrer. Beide blickten mich besorgt an, sie hatten meine Füße auf einen Stuhl gelegt, langsam nahm ich ihre Stimmen wieder wahr.
„...Und als ich dann gesehen habe, wie sehr er gezittert hat und wie stark er geatmet hat, bin ich sofort zu ihm hingelaufen und hab ihm geholfen, aus dem Zimmer zu gehen...", hörte ich eine weiche Stimme neben mir.
Ich richtete mich auf und blickte in Lolas tiefblaue, wunderschöne Augen. „Wo bin ich, was ist passiert?!", stammelte ich und sah mich hektisch um.
„Hey, es ist alles gut. Ich glaube, du hattest eine Panikattacke. Soll ich noch kurz mit dir hier draußen bleiben?", fragte Lola.
Ich nickte, mein T-Shirt war nass geschwitzt und klebte an meinem Körper, und ich war völlig außer Atem.
„Ich gehe nun wieder in den Unterrichtsraum und fahre mit dem Unterricht fort, sonst vergeht noch weiterer, wertvoller Unterricht!", sagte mein Englischlehrer.
Er lief hektisch in Richtung der Türe und schloss diese hinter sich. Lola setzte sich neben mich.

„Hast du gemerkt, was passiert ist?", fragte Lola, als der Lehrer die Türe hinter uns geschlossen hatte.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, irgendwer ist nur mit mir rausgegangen, ich hab nicht mehr richtig Luft bekommen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, meine Hände nicht mehr zu spüren und meine Beine nicht mehr zu spüren.", sagte ich.
Lola sagte nichts.
Er zog seinen großen, kuscheligen Kapuzenpulli aus, legte diesen wie ein Kopfkissen unter meinem Kopf, und nahm vorsichtig meine Hand.
„Und hast du das öfters?", fragte er.
Ich schwieg für einen Moment. Sollte ich es wirklich erzählen, sollte ich Lola anvertrauen, was mich beschäftigte? Keiner Person auf der Welt hatte ich jemals alles davon erzählt, was in den letzten Wochen passiert war. Und während ich noch überlegte, legte Lola seinen Arm um mich, und ich brach in Tränen aus. Es waren große, dicke Tränen, die mir die Wange hinunterliefen. Ich weinte bestimmt 10 Minuten durchgehend, bis ich es schaffte, mich wieder so weit zu beruhigen, dass ich normal sprechen konnte.
Mit zittriger Stimme berichtete ich, was in den letzten Wochen seit Beginn der Oberstufe bei mir passiert war. Lola hörte aufmerksam zu, bis ich fertig war. Für ein paar Minuten lang sprachen wir beide kein Wort.
„Ich glaube, du solltest dringend in Therapie gehen.", sagte Lola.
„Aber wieso? Ich kann doch noch meistens zur Schule gehen?!", sagte ich und schüttelte den Kopf.
„Finley, ich weiß, was uns hier, in der Schule vermittelt wird, ist etwas völlig anderes als das, was eigentlich sinnvoll ist. Du musst jetzt wirklich auf deine Gesundheit achten!!", sagte Lola.
Er sprach unruhig, besorgt, seine Gelassenheit war in Sorge und Aufregung übergegangen. Wie sollte ich das meinen Eltern erklären, wie sollte ich es schaffen, nach Corona einen Therapieplatz zu finden? Doch eigentlich hatte er ja recht, ich sollte auf meine Gesundheit achten, bevor es zu spät war. Scheinbar konnte Lola Gedanken lesen, denn im nächsten Moment lehnte er sich an das Geländer, das die Treppe begrenzte, atmete tief durch, er schloss die Augen und erzählte etwas, das ich niemals erwartet hätte.

Lola

„Als ich 7 Jahre alt war, ist meine ältere Schwester gestorben. Sie war damals 15 gewesen und ich hatte bis dahin immer ein gutes Verhältnis zu ihr gehabt", begann er zu erzählen.
„Eines Tages, als ich von der Schule gekommen bin, hat meine Mutter geweint. Als ich gefragt hab, was denn passiert war, hat meine Mutter gesagt, dass Leonie gestorben war. Warum, hat mir damals jedoch niemand erzählt. Als ich 10 war, habe ich dann mit meiner Tante gesprochen. Meine Tante und ich stehen uns heute auch noch sehr nahe. Sie hat mir anvertraut, woran Leonie gestorben ist", fuhr er fort.
Finley schwieg. Hatte ich ihm zu viel erzählt? Konnte er damit umgehen?
„Woran ist sie gestorben?", fragte er nach ein paar Sekunden.
„Sie hat sich zuerst in die Arme geschnitten und danach mit Tabletten umgebracht", sagte ich, und jedes einzelne Wort, das ich aussprach, wog dabei wie Blei auf meiner Zunge.
Ich wischte mir eine Träne weg. Niemals hätte ich erwartet, dass so etwas während einer Englischstunde, am Montagmorgen, passieren würde. Doch es war so, ich wusste, dass ich mir das hier nicht einbildete. Finley lag stumm neben mir.
„Ich hatte in dieser Zeit auch viele Panikattacken. Jeden einzelnen, verdammten Tag, häufig auch mehrmals täglich. Und dann hab ich mich entschieden, eine Therapie zu machen. Seither habe ich seit 2 Jahren kaum noch Panikattacken", erzählte ich.
„Was ich dir damit sagen will, Finley: Mach die Therapie, auch wenn es viele Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen gibt. Es ist manchmal schwer, aber es hilft, das verspreche ich dir. Manches, was in unserem Herz kaputtgegangen ist, kann man nicht mehr heilen. Aber man kann lernen, damit umzugehen", sagte ich und drückte seine immer noch zitternde Hand.
Finley atmete tief durch.
Er schwieg, für einige...

...endlos...

...lange...

...Sekunden...

„Okay", hörte ich ihn sagen.

„Ich versuche es."

Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt