Die Stimme des Sanitäters riss mich aus meinen Gedanken.
„Möchtest du mitfahren? Ich glaube, er braucht dich gerade.", fragte er.
„Auf jeden Fall!", rief ich und nahm unsere beiden Rucksäcke.
Ich griff in die Tasche meines besten Freundes und öffnete sein Geldbeutel, um die Krankenkassenkarte herauszuholen. Doch was ich dort sah, raubte mir den Atem. In Eriks Geldbeutel lag ein weißer, zerknitterter, kleiner Zettel, auf dem mit Bleistift geschrieben stand: „Sag es bitte nicht meinen Eltern, nur wenn es gar nicht anders geht. Ich habe das getan, weil ich zu große Angst vor der Schule hatte. Es tut mir so leid."
„Kommst du?", rief der Sanitäter, der bereits in der Türe des Rettungswagen stand.
„Ähm, ja klar, ich komme", stammelte ich.
Ich rannte zum Rettungswagen. Dann gab ich seinen Ausweis und meinen eigenen dem Sanitäter, genauso wie Eriks Krankenkassenkarte. Ich stieg hinten, bei Erik ein und setzte mich neben die Liege auf der er lag und wir fuhren mit Blaulicht los.Immer noch betete ich, dass mein bester Freund überleben würde. Ich hörte das Blaulicht und die Sirenen und bekam Gänsehaut. Wieso hatte ich das alles nicht bemerkt? Ich weiß nicht, wie oft ich mir diese Frage an diesem Abend gestellt hatte. Doch es war so oft, dass ich irgendwann aufgehört hatte zu zählen.
„Wenn die Situation zu viel für dich wird, dann sag uns bitte Bescheid", sagte der Sanitäter, der sich mit mir bei Erik im hinteren Teil des Rettungswagens aufhielt. Ich nickte. Doch ich wollte und konnte auf keinen Fall von ihm weggehen. Nicht jetzt. Es hatte begonnen zu regnen und das Licht der Straßenlaternen ließ die Regentropfen als kleine, bunte Punkte an den Scheiben aufleuchten. Ansonsten hörte man nur das unheimliche Piepsen der medizinischen Geräte, die Erik am Leben hielten.
"Das war in seinem Geldbeutel", sagte ich und strecke einem der beiden Sanitäter das zernüllte Papier hin, dass Erik geschrieben hatte.
Der Sanitäter betrachtete es, nickte, und bedankte sich, dann zeigte er das Papier seinem Kollegen. Auch dieser nickte und schrieb etwas auf das Klemmbrett, dass er in der Hand hielt.Wir waren angekommen. Ich sah wie die Sanitäter in Richtung der Türe, über der das Schild Notaufnahme zu sehen war, eilten. Und ich stand, von Tränen überströmt neben dem leuchtenden Rettungswagen im Regen und betete, dass Erik überleben würde.
„Du kannst mitkommen, du musst aber vor dem Behandlungszimmer warten, bis der Arzt dich abholt.", erklärte mir ein Sanitäter.
Ich nickte und folgte ihm.
„Erik ist nicht ansprechbar. Weil du die einzige Person bist, die ihn gerade begleitet gebe ich dir das hier mit", sagte der Sanitäter und gab mir ein rotes Blatt Papier.
Ich las: „Notfallschein – Psychiatrie: Verdachtsdiagnose: Angststörung, akute Panikstörung." Schockiert starrte ich den Sanitäter an. „Bitte gib ihm den Zettel später, wenn es ihm besser geht. Der Arzt weiß aber auch Bescheid, wenn du Fragen hast, wende dich bitte an ihn. Wir müssen jetzt sofort weiter zum nächsten Einsatz", sagte der Sanitäter und verabschiedete sich. Schnell lief ich dem Sanitäter, der Erik in die Notaufnahme schob hinterher.Erik
Das erste Geräusch, dass ich hörte, als ich vorsichtig erst ein Auge, dann das andere öffnete, war das Piepsen der medizinischen Geräte, die überall um mich herumstanden. Ich versuchte mich zu orientieren, doch es viel mir schwer, da mir schrecklich schwindelig war. In meinem rechten Arm steckte eine Infusionsnadel, dann spürte ich den Verband auf meinem Kopf. Ich hatte immer noch schreckliche Schmerzen. Wo war ich hier überhaupt? Ich blickte in einen weißen Raum, auf ein weißes Bett, dann verschwamm alles wieder. Plötzlich ging die Türe auf und ein Mann im Arztkittel stand vor mir. „Guten Abend, Erik!", sagte er freundlich und setzte sich neben mich. „Wie geht es dir?", fragte er und notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. „Es geht so", sagte ich. „Wo bin ich hier überhaupt?", fragte ich irritiert. „Du bist auf der Intensivstation im Krankenhaus in Freiburg. „Mein Kopf tut schrecklich weh, mir ist immer noch schwindelig und ich weiß überhaupt nicht, wie ich hier hingekommen bin. „Ich glaube, da kann dir jemand helfen.", sagte der Arzt und lächelte. Er legte sein schwarzes Klemmbrett, auf denen viele gelbe Zettel und Unterlagen befestigt waren auf den Tisch neben meinem Bett und lief in Richtung Türe.
Die Türe ging auf, dann erkannte ich wer da vor mir stand. Es war Mike. Er lief so schnell er konnte in das Krankenhauszimmer und umarmte mich. „Erik, bist du okay?", rief er aufgebracht und setzte sich neben mich. „Es geht schon", sagte ich und lächelte schwach. „Ich weiß überhaupt nicht mehr, was passiert ist.", sagte ich. Mike hielt meine Hand ganz fest, er schwieg für einen Moment. Dann sagte er: „Also für mich sah es so aus, als wolltest du vor den Zug springen. Aber der Zug hat dich zum Glück nicht ganz erwischt, sondern er hat dich nur gestreift. Du bist dann auf den Kopf geflogen und lagst auf dem Boden. Das war am Bahnhof, heute gegen frühen Abend.", erzählte Mike. Der Arzt schrieb alles aufmerksam mit. „Dann hab ich sofort den Rettungsdienst angerufen und die haben dich ins Krankenhaus gebracht", sagte er. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Es tat mir schrecklich leid, dass Mike so etwas hatte sehen müssen. Doch ich konnte nicht mehr anders, es gab keine andere Möglichkeit mehr, als zu versuchen es zu beenden. „Mike, ich muss dir etwas sagen", begann ich. „Ja? Ich hör dir immer zu!!", sagte Mike und drückte meine Hand ganz fest. „Bitte nenne mich ab jetzt Finley, ja?", sagte ich. Mike runzelte kurz die Stirn. „Ja, klar, das kann ich gerne tun. Aber wieso, Finley?", fragte er. „Weil ich in letzter Zeit herausgefunden hab, dass ich nichtbinär bin und mich so lange nicht getraut habe, darüber zu sprechen. Ich hatte so doll Angst, von anderen Menschen ausgegrenzt zu werden. Erinnere dich mal an unsere erste Sportstunde.", sagte ich. „Die drei Jungs in der Umkleidekabine?" Ich nickte. „Was ist da passiert?", fragte der Arzt. „Drei Jungs aus unserem Sportkurs haben ihn geärgert, weil er ein Regenbogenarmband mit dem Aufdruck „100% Mensch" trug.", erklärte Mike dem Arzt. „Solche Spinner...", murmelte der Arzt. „Das ist überhaupt nicht schlimm, wenn man queer ist, auch wenn es Menschen gibt, die das zu dir sagen. Das ist nichts, wofür du dich schämen musst, das ist genial und gehört zu dir dazu! Wirklich! Das ist toll!!", rief Mike nun und umarmte mich ganz fest. „Wir schaffen das gemeinsam! Und es ist so toll, dass du jetzt anfängst darüber zu sprechen! Ich bin so stolz auf dich.", sagte er. Ich nickte und wusste nicht, was ich sagen sollte. „Du bist genau so viel wert, wie jeder andere Mensch. Es gibt so viele Menschen, die andere Menschen wegen ihrer Identität ausgrenzen. Weil sie anders sind. Aber anders heißt in deinem Fall keineswegs schlecht! Vergiss das nicht, Finley!", sagte Mike. „Danke", sagte ich. Der Arzt beobachtete Mike und mich kurz, dann lächelte er und legte seine Unterlagen neben mich. Sein Blick fiel auf das Display neben meinem Bett und Sorgenfalten breiteten sich auf seiner Stirn aus. „Finley, du musst noch mindestens eine Nacht hier im Krankenhaus bleiben, zur Sicherheit", sagte der Arzt. „Und dann werde ich mit deinen Eltern sprechen, dass wir eine Lösung finden, wie du mit deinen Ängsten umgehen kannst. Aber eine Sache kann ich dir versichern. Du brauchst jetzt erstmal nicht zur Schule gehen.", sagte der Arzt. Ich nickte. „Okay", sagte ich. „Das haben mir die Sanitäter mitgegeben", sagte Mike und gab mir einen roten Zettel. Ich las, was darauf stand und begann wieder zu weinen. Mike umarmte mich erneut. „Wir schaffen das, gemeinsam! Versprochen!", sagte er. Ich nickte und wischte mir die Tränen weg. „Ich bin verpflichtet, mit deinen Eltern zu sprechen, da du noch nicht volljährig bist. Darf ich sie hereinbitten?", fragte der Arzt. Mike blickte mich erschrocken an. Dann fiel es mir ein. Er hatte den Zettel gefunden, den ich geschrieben hatte und wusste Bescheid. Doch nun war ich nicht allein, ich hatte Menschen bei mir, die mich verstanden. Und was blieb mir anderes übrig? Also nickte ich. „Okay, einen Augenblick bitte", sagte der Arzt und lief zur Türe. Mike saß immer noch neben mir und hielt meine Hand, doch er wirkte, genauso wie ich wesentlich angespannter als davor.
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Plötzlich Erwachsen
Teen FictionFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...