27. Absturz, zweiter Teil (tw)

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In der darauffolgenden Woche merkte ich, wie sehr mein Leben aus dem Ruder geraten war. Es klingelte zum Ende der Pause. Ich wollte nicht so schnell wieder in den Unterricht. Jedes meiner Körperteile fühlte sich schwer wie Blei an. Ich konnte das Klassenzimmer nicht mehr sehen, ohne gegen die Tränen ankämpfen zu müssen. Die Hälfte der letzten Stunde hatte ich vor der Türe verbracht. Meine Angst war zu groß gewesen. Die Angst, eine ganz normale Unterrichtsstunde wegen den Panikattacken wiederholt nicht zu schaffen. Und die Angst hatte gewonnen – mal wieder.

So schnell ich konnte, hastete ich den Gang entlang. Ich lief in Richtung Toilette. Was um mich herum geschah, nahm ich gar nicht mehr richtig wahr. Alles um mich herum drehte sich, mir war schwindlig. So sehr ich mich anstrengte, ich hatte keine Kontrolle mehr. Nichts, was mich herum geschah fühlt sich echt und realistisch an. Schnell riss ich die Türe zur Toilette auf. Ich stützte mich auf den Rand des Waschbeckens. Im Spiegel vor mir erkannte ich mein vor Schmerzen verzerrtes Gesicht. Ich fühlte mich hässlich und wertlos. Mein Atem ging immer schneller. Ich wollte nicht in den nächsten Unterricht. Noch 6 Stunden lagen vor mir, ich hatte nichts gefrühstückt und es war gerade einmal der Beginn der ersten Pause. Meine Finger wurden taub und nach und nach alles andere an meinem Körper ebenfalls. Ich wollte nicht mehr. Und dann spürte ich, wie mir langsam übel wurde, einige Sekunden spürte ich gar nichts - dann, völlig unkontrolliert erbrach ich in das Waschbecken. Mehrmals würgte und spuckte ich, meine Augen waren wie blockiert, ich sah nichts mehr. Schnell tastete ich nach dem Wasserhan, öffnete ihn und spülte das Waschbecken aus. Dann wischte ich mir den Mund ab und versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. 

Irgendwo in der Ferne nahm ich den Klang eines Schulgongs wahr. Was, wenn jetzt irgendjemand die Toilette betreten würde?! Alles wirkte unecht auf mich, als würde ich mir das hier alles nur einbilden, oder doch nicht? Die Pause war anscheinend schon vorbei. Noch nie hatte ich so viel Hoffnung auf eine Pause von 15 Minuten gesetzt. Die Hoffnung, vielleicht doch einen Moment zum Durchatmen zu bekommen. Die Hoffnung, es doch noch schaffen zu können.

Doch ich war enttäuscht worden. 

In diesem Moment passiert so viele Dinge gleichzeitig, dass ich gar nicht richtig erklären kann, wie schlimm sich das anfühlte. Gleich würde es noch einmal klingeln. Ich hatte wirklich den Unterricht verpasst. Es fiel mir schrecklich schwer, mir das selbst einzugestehen. Doch ich hatte es nicht geschafft, in den Unterricht zu gehen. Auf einmal merkte ich, wie Blut aus meiner Nase tropft. Ich hatte viel zu schnell geatmet. Schnell, damit niemand anderes es merkte zog ich ein Papiertuch aus dem beschmierten Kasten an der Wand, wischte das Blut weg und spülte das Waschbecken aus. Zum Glück ging mein Atem wieder etwas ruhiger, doch um mich herum wackelte immer noch alles, immer noch fühlte sich alles seltsam an. Warum musste ich das hier gerade aushalten? Ich lehnte mich gegen die Wand, die mit kalten, feuchten Fliesen und Graffitis bedeckt war. Die Toiletten waren eklig, sie waren nicht so, dass sie in einen Ort wie die Schule passten, an dem man so viele Stunden seines Lebens verbracht. Ich ließ mich, mit dem Rücken zur Wand auf den kalten Boden sinken. Auf keinen Fall konnte ich so in den Unterricht gehen. Und niemand verstand, warum.


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