15. Ich muss jetzt kämpfen (tw)

24 2 0
                                    

Es waren einige Tage vergangen, als ich zur ersten Stunde in die Schule kam und mich auf den Weg zur Matheklausur machte. Als ich über die Treppe in den ersten Stock lief, und langsam über den Gang schlich spürte ich immer deutlicher die Anspannung, die in der Luft lag. Das grelle Licht der Lampen die den Gang erleuchteten brannte in meinen Augen. Das Gefühl, dass begonnen hatte, als ich an diesem Morgen aufgestanden war hatte sich verstärkt, und nun spürte ich wie sich mein Magen zusammenzog und meine Hände feucht wurden. Ich war nun nur noch wenige Meter von der Menschenansammlung vor dem Raum entfernt, in dem wir die Klausur schreiben sollten, als ich merkte, wie sich meine Sicht langsam veränderte. Alles war verschwommen, als hätte ich eine Brille auf, die alles unscharf machte. Atmen, Erik. Einmal, zweimal, dreimal. Gleich ist es vorbei. Der Gang, die Menschen vor dem Raum, die Stimmen, alles wirkte irgendwie verzögert und wie aus der Ferne. Es war ein seltsames Gefühl. Ich glaubte, langsam näher zu kommen, dann erkannte ich nach einiger Zeit genauer die Leute, die vor mir standen. Es waren die Schüler aus meiner Stufe. Ich blieb stehen und lehnte ich mich gegen die Wand. Das Gemurmel der anderen drang nun langsam an meine Ohren. Ich wollte diese Klausur nicht schreiben. Seit dem Wochenende war eine deutliche Anspannung wegen dieser Klausur in unserer ganzen Stufe zu spüren, besonders bei denen, die Mathe als LK gewählt hatten. Man hatte es immer wieder gemerkt, wenn mein Handy auch noch nach Mitternacht vibriert hatte, und in unserer Stufengruppe etliche Lernzettel ausgetauscht wurden. Langsam, aber sicher wurde mir bewusst wie sehr zutreffend die Aussagen von Schülern aus der Stufe ein Jahr über uns waren. Dabei war dies erst der Anfang der ersten Klausurenphase, mindestens 2 weitere und die richtigen Abiturprüfungen standen mir noch bevor. Ich spürte, dass es jetzt verdammt ernst wurde. Keiner sprach mehr ein Wort, um mich herum waren so viele Menschen, manche kannte ich, manche nicht. Doch sie hatten alle ihre Lernzettel, vollgeschrieben mit Formeln und Zahlen in der Hand. Und ich stand mittendrin, versuchte mich zu beruhigen, zu atmen, zu denken und nicht davonzurennen. Es klingelte zum zweiten Mal, einige packten hoffnungslos und verzweifelt ihre Aufschriebe weg, andere nahmen ihre Schultaschen in die Hand. Ich merkte, wie sich eine Person am Ende des Ganges auf uns zubewegte. Ich begann langsam schwerer zu atmen. Die Person näherte sich uns, ich erkannte sie nur unscharf. Ich bemerkte, wie ich das Gefühl in meinen Händen verlor, sie fühlten sich taub an. Ich erkannte meinen Mathelehrer, er lief auf uns zu, in der Hand hielt er einen Stapel Blätter. Er lief auf uns zu, immer schneller, ich begann schwerer zu atmen, mein Herz pochte wie verrückt. Die Worte anderer Schüler hallten in meinem Kopf wider: „Oberstufe ist verdammt heftig! Schule ist ein Gefängnis!" Ich musste heftig schlucken. Der Lehrer stand nun vor der Tür. Sein Schlüsselbund drehte sich im Schloss. Langsam, es klickte, dann öffnete sich die Tür. Der Geruch von Schweiß stieß mir entgegen. Langsam traten wir ein. Ich setze mich an einen Platz am hinteren Fenster des großen Raums. Während unser Lehrer wortlos die Klausuren austeilte, bezweifelte ich wiederholt, ob ich dem, was von mir gefordert wurde, gewachsen war. Der Lehrer knallte das Blatt vor mir auf den Tisch, dort lag es groß und weiß, was darauf stand sollte über meine Zukunft entscheiden. „Umdrehen, viel Spaß!", rief unser Lehrer, setzte sich bequem hin und holte sein Pausenbrot heraus. Dann biss er hinein, kaute genüsslich und lies es sich schmecken. Einmal, zweimal, dreimal. Und ich saß kämpfend über meiner Matheklausur. Ich lass die erste Aufgabe, dann die zweite, dann die Dritte, dann ließ ich meinen Stift fallen und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Es schien hoffnungslos, einen Versuch zu unternehmen die Aufgaben zu lösen. Doch gleichzeitig wusste ich, sollte ich es nicht versuchen, würde ich es sowieso nicht schaffen. Ich musste es also probieren, auf keinen Fall durfte ich einen Unterkurs schreiben. Dies war eine Angst, die nicht nur mich beschäftigte. Ständig war in unserer Stufe die Rede von der Hoffnung auf möglichst wenige Unterkurse. Ich fragte mich immer mehr, was das Schulsystem eigentlich damit bezweckte. Immer mehr verstand ich den Satz „Schule ist ein Gefängnis", den einer meiner als Mitschüler letztes Jahr während einer Mathestunde ausgesprochen hatte. Ich blicke auf die Uhr und erschrak, ich hatte viel zu lange nachgedacht. Nun hatte ich noch mehr Zeitdruck. Ich lass erneut die erste Aufgabe. „Aufgabenbereich A, ohne Taschenrechner. Gegeben sei eine Funktion f'. Bestimmen Sie die Extremstellen, Wendepunkte und Nullstellen der Funktionen f, g und h und zeichnen Sie ohne Rechnung die Ableitungen 2 bis 4." Ich blickte auf das Schaubild, auf dem sich mehrere Linien schlängelten und kreuzten, und erschrak. Ich konnte nichtmal die einfachste Aufgabe lösen. Die ersten Schüler waren aufgestanden und hatten sich den zweiten Teil der Klausur geholt. Meine Hände waren immer noch taub und ich begann stärker zu zittern als ich es seit der Pause vor der Klausur bereits tat. Mein Bauch schmerzte, mir war schwindelig, ich hatte noch nicht einmal angefangen die Aufgaben zu bearbeiten. Vorsichtig griff ich nach dem Stift und begann einen Versuch, die erste Aufgabe zu lösen. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass ich nur noch 40 Minuten Zeit hatte, bis ich die Klausur abgeben musste. Ich spürte, wie ich immer panischer wurde. „Ruhig bleiben, Erik. Alles wird gut, du hast es bald geschafft.", redete ich mir ein. Doch es half nichts, es schien, als hätte ich den Kampf verloren. Mein Blick schweifte zum Fenster. „Erik, letzte Warnung sonst ist das Blatt weg!", rief der Lehrer durch den Raum. Ich zuckte zusammen, dann sah ich wie der Lehrer mich wütend anblickte. Einige andere Schüler waren durch seinen Ruf aufgeschreckt, ein paar lachten etwas skeptisch, andere schüttelten genervt den Kopf und wendeten sich wieder ihren Aufgaben zu. Noch 30 Minuten bis zur Abgabe. Die Zeit verging rasend schnell, zu schnell. „Versuch einfach, das zu machen, was du verstehst.", redete ich mir selbst ein.

Ich beschloss die erste Aufgabe zu überspringen, dann lass ich die zweite Aufgabe. „In einem Biotop befinden sich 10978 Mikrobakterien. Wissenschaftler geben pro Sekunde 0,0034 Milligramm Futter hinzu. Bestimmen Sie ohne Rechnung, wie viele Bakterien nach einer Zeit von t = 52,3s vorhanden sind.", lass ich. Noch 20 Minuten. Die ersten Schüler begangen, die Klausur bereits abzugeben. Und nach weiteren 5 quälenden Minuten des Nachdenkens und Überlegens beschloss ich, aufzugeben. Ich stand auf, legte meine Klausur auf den Stapel neben dem Tisch, an dem unser Lehrer saß, dieser warf einen skeptischen Blick zu und schüttelte den Kopf. Ich erwiderte den Blick nicht,  nahm meine Tasche und verließ den Raum. Als ich in dem großen, mächtigen und gleichzeitig heruntergekommen Schulflur stand hörte ich zwei Schülerinnen, die sich unterhielten. „Hey, das ging voll!", sagte die eine. „Ja, es war eigentlich voll okay!", antwortete die andere Schülerin. Ich war sprachlos. 


Plötzlich ErwachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt