Die nächste Mathestunde, eine Woche später war der pure Horror. Unser Mathelehrer war heute anders fies, ich mochte ihn grundsätzlich nicht, aber in dieser Stunde schien er noch wütender und genervter von seinen Schülern, als er es schon immer war. Wie ein Richter saß er auf dem Lehrerpult und blickte uns skeptisch an. Die Mathe Basiskurse waren meistens sehr groß, wie auch in unserem Jahrgang das bedeutet, dass nun 25 Schüler resigniert auf ihre Tische blicken, mit der Hoffnung nicht drangenommen zu werden. Der Lehrer tippte mit seinen langen Fingernägeln auf den Heften herum, einige Sekunden lang herrschte unangenehme Stille, dann wurde das Schweigen durch seine laute Stimme unterbrochen. „Bei manchen aus diesem Kurs fragte ich mich wirklich bei der Korrektur, wieso sie hier in der Oberstufe gelandet sind", begann er, stand auf und lief vor den Tischen der ersten Reihe auf und ab. Da war es wieder, das zerfressende Gefühl nicht gut genug zu sein. Vor allem die letzte Reihe, bei Ihnen habe ich mich wirklich gefragt, warum sie nicht bereits in der zehnten Klasse aussortiert wurden.", setzte er seine Rede fort. Ich blickte auf. Hatte er... Nein, das hatte ich mir nur eingebildet. Sekunden später merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte und es mir doch nicht eingebildet hatte.
Der Lehrer blickte mich direkt an.
Neben mir saß ein Mädchen, dass ich aus der 10. Klasse kannte. Ich bemerkte, wie sie den Lehrer kritisch, aber vor allem überlegen anblickte. Mein Blick schweifte wieder nach vorne, zur Tafel. Irgendwie war es beängstigend zu wissen, dass ein Blatt mit Zahlen und Buchstaben darauf so viel Entscheidungskraft besaß, dass es einen Schüler einen Unterkurs und damit so viel Angst und Sorgen verpassen konnte.
Und dann passierte es.
Das Blatt klatschte vor mir auf den Tisch, dort lag es, kalt und schwer. Es war ein beängstigendes Gefühl zu wissen, dass ich jetzt nichts mehr daran ändern konnte. Vorsichtig drehte ich es herum, dann sah ich es. Eine rote, große 2 mit einem Kreis drum herum. Zwei Punkte, ich hatte einen Unterkurs geschrieben. „Du bist ein Versager, Finley", schoss es mir durch den Kopf. „Ein elender Versager!"
„Und was hast du geschrieben?", sagte plötzlich eine freundliche Stimme. Ich drehte mich um, dann sah ich wer mit mir gesprochen hat. Lilly saß neben mir. Lilly hatte grün gefärbte Haare, die ihr über der rechten Seite ihres Kopfes lässig ins Gesicht hingen. Sie war zwei Jahre älter und etwas größer als ich, ihre schwarze Jogginghose war über und über mit Sternen besäht. Außerdem trug sie ein grünes, bauchfreies T-Shirt, auf dem ein Kickboxer zu sehen war, der voller Wucht in die Luft trat. „Zwei, und du", sagte ich zerknirscht. Lilly blickte mich mit ihren grünen, tiefen Augen besorgt an, dann antwortete sie: „13". Stolz schwang in ihrer Stimme mit. Ich lächelte. „Cool", sagte ich. Sie nickte. Ich kannte Lilly bereits aus der zehnten Klasse, sie war eine der wenigen Personen, mit denen ich zumindest etwas Kontakt hatte, doch hatten wir schon ewig nicht mehr wirklich geredet. Ich lehnte mich zurück und blickte auf das Papier, das auf meinem Tisch lag. Am liebsten hätte ich es zerstört und zerrissen, in tausend kleine Fetzen. Du bist ein elender Versager, Finley, schoss es mir durch den Kopf.
Und dann passierte es.
Ich spürte erneut, wie meine Hände taub wurden, dann wurde mir schwindlig und übel, ich begann langsam schwerer zu atmen. Wie sollte ich das meinen Eltern erklären? Und vor allem, wie sollte ich die Oberstufe schaffen, ich bin so ein Versager!
Eine Träne lief mir die Wange hinunter. Auf einmal spürte ich Lillys Arm auf meiner Schulter. „Erik, alles in Ordnung bei dir?", drang ihre Stimme an mein Ohr, sie hörte sich wie aus der Ferne und sehr leise an . Ich zuckte zusammen, blickte mich hektisch um dann erkannte ich, wo ich war. „Ja, klar, alles in Ordnung.", antwortete ich und nickte schnell. Lilly blickte mich noch kurz besorgt an, dann nickte sie. Es war irgendwie schrecklich zu wissen, dass schon zum zweiten Mal etwas passiert war, von dem ich niemandem erzählen konnte. Auf einmal stand mein Lehrer vor mir „Und, Erik, woran hat's gelegen?", fragte er vorwurfsvoll und baute sich vor mir auf. „Ich weiß es nicht so wirklich, ich war einfach sehr aufgeregt", erwiderte ich. „Ach komm, wenn man aufgeregt ist, hat man einfach nicht genügend gelernt. Da bist du wirklich selber schuld.", rief der Lehrer nun aufgebracht. Ich war sprachlos und starrte den Lehrer mit offenem Mund an. „Ich habe gelernt, aber trotzdem war ich aufgeregt und trotzdem saß ich in der Klausur und hatte einen Black-out.", erwiderte ich, als ich mich wieder gesammelt hatte. Der Lehrer lachte kurz spöttisch auf, dann stützte er sich vor mir auf dem Tisch ab. Er war mir nun unangenehm nahe. „Wie gesagt, dann hast du einfach nicht genügend gelernt. Ich mache den Job nun lange genug, um zu wissen, wer gelernt hat oder einfach nur faul ist." Er stand noch einige Sekunden vor mir, und blickte mich überheblich an, dann dreht er sich um und ging. Lilly und ich blickten ihm noch einige Sekunden lang hinterher. Plötzlich drehte sich Isabel aus der Reihe vor mir um und sagte zu mir: „Oh, was hat der liebe Erik denn geschrieben?" „Nichts, was dich angehen braucht!", sagte ich und blickte sie grimmig an.
„Oh, ist da jemand traurig?", feixte sie weiter.
Unser Gespräch wurde von den Worten unseres Lehrers unterbrochen, der mit dem Unterricht weitermachte.
Als er sicher außer Reichweite war beugte sich Lilly zu mir, und flüsterte: „So ein Arschloch!" „Wer?", fragte ich.
„Alle beide!", sagte Lilly und lachte.
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszulachen, doch ich schaffte es nicht.
„Ja, du hast recht", sagte ich und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht.
Trotz, dass alles chaotisch war und ich keine Hoffnung mehr hatte, die fast zwei Jahre Schule, die noch vor mir lagen meistern zu können, tat es gut zu wissen, dass es auch an diesem Ort der Verzweiflung jemanden gab, der mich zumindest ein bisschen verstand.
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Plötzlich Erwachsen
Teen FictionFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...