Lola zog das rote, kleine Tuch von der Decke, öffnete die Luke zum Dachgeschoss, und ich verstand nun, wo er hinwollte.
„Du willst in die Sternwarte gehen?", fragte ich.
Er nickte und begann, eine Stufe nach der anderen hinaufzuklettern. Ich folgte ihm.Auf dem Dachboden war es dunkel. Lola entschied sich dagegen, das Licht anzuknipsen, und da ich nicht wusste, wo der Lichtschalter war, tappten wir im Dunkeln.
„Soll ich zuerst gehen?", fragte er.
Ich nickte und war schrecklich nervös. Im Dunkeln konnte ich nur die Umrisse seines Körpers erkennen. Langsam fing ich an zu glauben, dass Lola Gedanken lesen konnte, auch wenn ich wusste, dass das nicht möglich war. Denn im nächsten Moment legte er eine Hand auf meine Schulter und blickte mir tief in die Augen.
„Ich war schon unzählige Male in der Sternwarte und selbst ich bin immer noch nervös", sagte er.
Ich nickte und war froh, damit nicht alleine zu sein.
Immer wieder spielte mein Kopf das Bild vom letzten Aufenthalt in der Sternwarte ab, bei dem ich fast in den Abgrund gestürzt war. Doch Lola hatte einen Stein auf dem Herzen, den er loswerden wollte. Und das war in diesem Moment wichtiger als die Angst vor dem Tod.
Lola öffnete das Fenster und begann zu klettern. Als er oben war, setzte ich vorsichtig einen Fuß, dann den anderen auf das Fensterbrett und erklomm Stufe für Stufe die Leiter.
Als ich den Fuß von der letzten Stufe auf das Dach setzte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Lola wartete bereits auf mich, er hatte sich in eine Decke eingewickelt und trat einen Schritt auf mich zu. Dann umarmte er mich, wobei er die Decke wie ein Mantel um uns beide schloss.
„Bist du bereit?", fragte er und wir waren uns nun ganz nahe.
Ich nickte.
„Ja", sagte ich. „Ich bin bereit."
Lola löste den Mantel von unseren Körpern, er setzte sich auf den Boden und ich setzte mich neben ihn. Dann legte er den Mantel wieder um uns. Ich kuschelte mich an ihn und hielt seine Hand ganz fest.
„Okay, ich höre dir zu.", sagte ich.
Lola atmete ein paar Mal tief durch, dann begann er zu erzählen.„Als wir das erste Mal bei mir waren, hab ich ja erwähnt, dass mein Vater nicht mehr bei uns lebt. Erinnerst du dich?", begann er.
Ich nickte.
„Mein Vater lebt ganz weit weg, irgendwo in Südamerika, wo genau weiß niemand aus unserer Familie so genau. Als ich klein war, hat mein Vater mich und meine kleine Schwester oft geschlagen, wenn wir nicht gut in der Schule waren oder etwas angestellt hatten.", erzählte er.
„Was?!", platzte es aus mir heraus. Ich schloss meine Arme so fest ich konnte um Lola.
Er nickte und legte seinen Kopf auf meine Schulter.
„Meine Mutter hat sich dann von ihm getrennt und er ist, um dem Strafverfahren zu entkommen, nach Südamerika ausgewandert. Seither ist meine Mutter alleinerziehend. Zu meinem Vater haben wir alle den Kontakt abgebrochen. Weil meine Mutter als Putzfrau nicht viel verdient, sind wir ziemlich arm. Mein Vater unterstützt uns finanziell nicht, er weiß nicht mal, wo wir wohnen."
Wir schwiegen einige Sekunden und ich war sprachlos.
„Was glaubst du, warum ich dir das hier erzähle?", fragte Lola plötzlich.
„Weil du es mit jemandem teilen möchtest, damit es für dich leichter wird, und das ist auch richtig so und total verständlich", antwortete ich sofort.
Lola schüttelte den Kopf.
„Nein", sagte er. „Ich habe jahrelang darüber geschwiegen und wenn es sein muss, würde ich es auch irgendwie ertragen, weiter darüber zu schweigen. Aber ich möchte, dass du weißt, dass die Schläge meines Vaters auch heute noch Spuren bei mir hinterlassen haben. Die Spuren befinden sich ganz tief in mir drinnen. Die blauen Flecken sind längst verheilt. Doch es passiert mir noch oft, dass ich, wenn es mir nicht gut geht, dazu neige, alle Emotionen zu unterdrücken. Ich bin dann total abgestumpft und trocken zu anderen. Denn seither fällt es mir sehr schwer, Emotionen zuzulassen und zu fühlen. Das ist wie ein Cooping-Mechanismus gegen das Trauma, verstehst du?"
Ich nickte.
„Ja, ich verstehe", sagte ich und fühlte mich gleichzeitig schlecht, dass ich nicht mehr als diese drei Worte herausbrachte.
„Erinnerst du dich an den Schultag, an dem ich im Aufenthaltsraum in der Schule stand, umzingelt von vielen Leuten, und mir eine Person ein Handy hingestreckt hat? Du wolltest mich fragen, was mit mir los war, und ich bin ziemlich wütend geworden.", fragte Lola.
Ich nickte.
„Ja, ich erinnere mich", sagte ich.
„Ich hatte zu dieser Zeit Kontakt mit einem Typen, den ich auf einer Party kennengelernt hatte. Ich weiß, dass er etwas von mir wollte, und ich wusste nicht, ob ich auf ihn stand. Wir haben viel geschrieben, aber irgendwann ist die Konversation in eine ganz komische Richtung gegangen. Er wollte ein Nacktfoto von mir, und ich war so dumm und hab ihm eins geschickt", sagte Lola, und ich hörte in seiner Stimme, wie sehr er sich schämte.
„Lola, warum machst du so etwas? Das ist gefährlich!!", sagte ich aufgebracht.
Lola nickte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
„Ich weiß, Finley. Ich weiß, dass es dumm war. Richtig dumm und richtig unverantwortlich.", gab er zu.
„Der Typ, mit dem ich geschrieben hatte, hat mich dann wenige Tage, nachdem ich ihm das Foto geschickt hatte, einfach fallen gelassen. Er hatte mit einem anderen Mädchen geschrieben und brauchte mich nicht mehr. Wenig später sind die beiden dann zusammengekommen. Ich hab ihn bis heute blockiert und wir haben keinen Kontakt mehr."
„Gut, dass du ihn blockiert hast", sagte ich und nickte.
„Ja.", sagte Lola. Er blickte nach oben in den Himmel, wo der Mond und die Sterne aufgegangen waren. Es waren viele kleine, wunderschöne Sterne. So wunderschön wie Lola war. Ich würde hier so lange mit ihm sitzen und ihm zuhören, bis es ihm wieder besser ging, das schwor ich mir.
„In diesem Moment, an diesem Montagmorgen, wo wir alle im Aufenthaltsraum unserer Schule standen, hat mir eine Schülerin genau dieses Nacktfoto von mir selbst gezeigt, das schon in unzähligen Chatgruppen verbreitet wurde. Und dann wurde mir bewusst, dass ich mich eigentlich schon lange Zeit davor in dich verliebt hatte. Deswegen habe ich mich unvorstellbar schlecht gefühlt. Verstehst du das?", fragte Lola und schluchzte.
„Ja, das verstehe ich", sagte ich und umarmte ihn stärker. Vorsichtig wischte ich ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Aber du brauchst dich nicht schlecht fühlen, Lola. Ich bin nicht böse auf dich, überhaupt nicht. Ich verstehe jetzt, warum du in diesem Moment so sauer und wütend warst."
„Aber bitte schicke nie wieder Nacktbilder von dir herum, ja?", sagte ich und blickte ihm tief in die Augen.
„Ich bin nicht sauer auf dich deswegen, wir waren zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht zusammen, aber trotzdem, das ist so gefährlich!", sagte ich.
Lola nickte und wischte sich die Tränen weg.
„Es tut mir so leid, Finley", sagte er.
„Es ist alles gut, Lola", sagte ich.
Ich blickte in den Himmel und sah eine große Sternschnuppe.
„Ich wünsche mir, dass Lola es schafft, sich zu verzeihen", wünschte ich mir leise, in Gedanken.
Wir schwiegen einige Sekunden.
„Ich muss immer noch lernen, Emotionen und Gefühle zuzulassen, auch die traurigen Emotionen, wenn es mir schlecht geht.", sagte Lola und kuschelte sich ganz eng an mich.
„Und in dieser Situation hat sich das alte Verhaltensmuster wieder eingeschlichen und ich habe alle Emotionen und leider auch alle anderen Personen, so wie dich, abgeblockt", fügte er hinzu.
Ich nickte und mir wurde einiges klar. Es war gut, dass Lola endlich gesprochen hatte.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Lola. Aber ich liebe dich trotzdem und bin dir nicht böse, okay?", sagte ich leise.
Lola nickte.
„Ich liebe dich auch, Finley", sagte er und küsste mich auf den Mund.
„Du brauchst auch nichts sagen. Es hat schon geholfen, dass du mir zugehört hast.", sagte er.
Ich nickte.
„Ich werde dir immer zuhören, wenn du es brauchst, okay?", versprach ich.
Lola wischte sich erneut eine Träne weg. Er nickte.
„Danke", sagte er.
„Du musst dich nicht bedanken.", sagte ich und lächelte.
Lola legte unseren Mantel enger um uns und nickte.
„Und was ist mit deiner Mutter?", fragte ich.
„Sie ist ziemlich streng mit uns. Aber eigentlich ist sie eine total liebe Person. Ich glaube, dass sie so streng ist, weil sie mit der ganzen Situation überfordert ist und nicht weiß, woher sie genügend Geld bekommen soll, um meiner Schwester und mir ein gutes Leben zu ermöglichen.", sagte Lola.
„Aber sie hat mir schon als kleines Kind immer ein Gebet vorgelesen, dass mir heute noch ganz viel Kraft gibt", sagte er.
„Soll ich dir sagen welches?", fragte Lola und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ja, gerne", sagte ich und nickte.
„Okay", sagte Lola und nahm meine Hand.
Lola:
„Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Er stillt mein Verlangen, er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen.
Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht."
„Danke", sagte ich und lächelte.
Ich hatte nichts mit Religion zu tun, ich war nicht gläubig und ging auch nicht in die Kirche, doch als Lola in dieser Nacht für mich betete, änderte sich ganz tief in mir drin etwas zum Guten, dass ich nicht beschreiben kann.
„Glaubt ihr in eurer Familie alle an Gott?", fragte ich.
„Ja", sagte Lola. „Seit ich denken kann, hat meine Mutter immer für uns gebetet."
„Das ist total schön", sagte ich.
Lola nickte.
„Mir gibt das auch heute noch total viel Kraft", sagte er tapfer.
Ich nickte.
„Das glaube ich", sagte ich und umarmte ihn erneut.
Und in diesem Moment wurde mir bewusst, warum ich heute Nacht überhaupt hier war.
„Lola, weißt du, warum ich heute Abend zu dir gekommen bin?", fragte ich und richtete mich auf.
„Nein, wieso?", fragte Lola.
„Ich war an der Dreisam, ich hatte einen kurzen Spaziergang gemacht. Am Fluss ist mir eine kleine, schwarze Katze begegnet. Sie hat mich immer wieder angestupst und hat nicht lockergelassen, sie wollte mir irgendetwas zeigen. Also bin ich ihr gefolgt. Die Katze hat mich durch die ganze Innenstadt bis zum Zug geführt. Dann bin ich eingestiegen und zu dir gefahren."
Lola lächelte.
„Wie süß", sagte er.
„Die Leute müssen mich für verrückt gehalten haben, einer Katze hinterherzulaufen", lachte ich und schüttelte den Kopf.
„Finley? Denk mal daran, was ich dir gerade gesagt habe", sagte Lola.
„An das mit deinem Vater?", fragte ich.
„Nein, an das andere.", sagte er.
Plötzlich wurde mir klar, was Lola meinte.
„Meinst du, dass Gott die Katze geschickt hat, um mich zu dir zu bringen?", fragte ich aufgeregt.
Lola nickte mit voller Überzeugung.
„Ja, das glaube ich nicht nur, sondern ich bin mir sicher, dass es so ist", sagte er.
Ich atmete tief durch und dankte der Katze und dem lieben Gott innerlich dafür, dass er mich zu Lola gebracht hat.
Denn heute Nacht war mir einiges bewusst geworden.Ein paar Stunden später sah ich, wie am Horizont über Freiburg die Sonne aufging.
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Plötzlich Erwachsen
Teen FictionFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...