Eine Woche später war es so weit. Ich durfte meine Großeltern besuchen. Sie hatten von meiner Situation mitbekommen und wollten unbedingt, dass ich sie besuchen komme. Ich stieg die Treppe zum Bahnsteig hinauf. Der Bahnhof lag von Nebel bedeckt, im Licht der Laternen. Es war ein besonderer Tag für mich, ein sehr besonderer Tag. Die Sonne war untergegangen und es war schon dunkel, mein Nachtzug würde bald abfahren. Morgen um sieben sollte ich in Berlin sein. Ich hatte einen einfachen Platz im Schlafwagen gebucht, nun wartete ich mit meinem Gepäck am Bahnsteig zu Gleis 1, vor der großen Bahnhofshalle. Langsam wurde ich etwas nervös. Es dauerte zwar nur 5 Minuten, bis mein Zug fahren sollte, doch diese 5 Minuten erschien mir wie 5 Stunden. Wie langsam die Zeit vergeht, wenn man aufgeregt ist...
Als mein Zug angesagt wurde, stellte ich mich in den richtigen Abschnitt, in Abschnitt D und blickte nervös in Richtung des Gleises, das in der Ferne zu verschwinden schien. Auf einmal sah ich aus der Ferne die leuchtenden Scheinwerfer des vordersten Zugwagons, der sich langsam dem Bahnsteig näherte. Langsam fuhr er ein, ein österreichischer Nachtzug, er war riesig und hatte viele Waggons. Ich stieg ein und lief den engen, stickigen Gang entlang. Es roch nach Zug, ekelhaft stinkenden Toiletten, Mikrowelle und nach Bahnsteig. Aber vor allem roch es nach Abenteuer. Hinter mir schlossen sich die Türen. Der Boden des Wagons unter mir begann zu wackeln, der Zug fuhr los. Das Ticket in der Hand haltend lief ich weiter. Ich entdeckte das Abteil Nummer 5, dort hatte ich mit 3 anderen Personen, die bereits dort saßen, ein Abteil mit Schlafplatz gebucht. Ein Mann aus der Schweiz, der bereits geschlafen hatte, eine englischsprechende Frau, die die dritte Person, ein kleines Kind gerade in den Schlaf wiegte. Auch im Abteil war es schrecklich eng und stickig. Langsam verließ der Zug den Bahnhof und fuhr über mehrere Weichen, die mich ziemlich durchschüttelten. Doch ich stand sicher, auf beiden Beinen auf dem Boden des Abteils.
Auf einmal klopfte es an der Tür. Für einen Moment erschrak ich. Schnell zog ich den Vorhang beiseite und blickte in den beleuchteten Gang. Es war nur der Schaffner. „Guten Abend, die Fahrkarten, bitte!" Leicht überfordert streckte ich ihm meine Fahrkarte hin, er nickte kurz die anderen taten es mir gleich. Der Schaffner verließ unser Abteil. Nebenan schien eine Gruppe betrunkener Fußballfans untergebracht zu sein. Der Gang stank schrecklich nach Alkohol, nach Zigaretten und nach Schweiß. Es war gegen 23:20 Uhr, als wir die nächste Station, Offenburg verließen. Das Bett war nicht besonders bequem, doch das war mir egal die Freude meine Großeltern wieder sehen zu dürfen, war größer. Langsam merkte ich, dass ich müde wurde. Während wir über Weiche um Weiche rollten, blickte ich nach draußen und sah die Großstädte vorbeiziehen, im Laternenlicht sah dieses Spektakel wunderschön aus. Der Zug ruckelte angenehm unter mir. So weit hatte ich es also geschafft, dachte ich und musste lächeln, trotz das dies im dunklen Wagon niemand sah. Ich steckte mein Handy in das Stoffnetz, dass an der Unterseite des Bettes über meinem Schlafplatz angebracht war. Dann breitete ich das Bettlaken auf der Matratze aus, legte mein Kissen zurecht und ließ mich nach hinten in die Matratze sinken. Langsam wurden meine Augen schwer und ich schlief glücklich ein.
An der Tür klopfte es. Guten Morgen, bitte aufstehen!", dröhnte die Stimme des Schaffners vom Vorabend zu mir. Ich schreckte auf. Schnell richtete ich mich auf und sah, wie wir über die Gleise vor dem Berliner Hauptbahnhof fuhren. Es waren endlos, viele Gleise, endlos viele Weichen, die mich noch stärker als gestern Abend durchschüttelten. Freude bereite sich in mir aus. Seit 3 Jahren hatte ich gehofft, dass ich diesen Moment noch erleben würde. Und jetzt war es wirklich geschehen, ich hatte es geschafft, bis hierher durchzuhalten. Voller Freude stand ich auf, zog meine Schuhe an und tapste durch den kleinen Raum, in dem auf 4 m², vier Koffer und Taschen standen. Ich lief durch den Gang, der zu den Schlafkabinen führte. Draußen zog die Landschaft vorbei, der Zug fuhr mit unglaublicher Geschwindigkeit, dann plötzlich wurde er langsamer. Ich musste mich beeilen. Schnell zog ich mir einen Pulli an, dann nahm ich meine Tickets, mein Koffer und meine Tasche. Der Zug wurde noch langsamer.
Nur noch wenige Meter, dann hatte ich es geschafft.
Der Zug hielt an, die Türen gingen mit einem quietschenden, lauten Zischen auf, und mir strömte die kalte, frische Morgenluft aus der Bahnhofshalle entgegen. Ich stieg aus, und stand auf dem Bahnsteig. Es war laut, die Schreie der kreischenden Tauben hallten durch die Bahnhofshalle. Es waren die Schreie der Freiheit. Und dann, im morgendlichen Chaos in der Bahnhofshalle, stellte ich meine Tasche ab, meinen Koffer dazu und fühlte mich seit drei Jahren das erste Mal richtig frei. Ich, Finley Sommer hatte es geschafft und mein Traum war in Erfüllung gegangen. Dann nahm ich meine Tasche und meinen Koffer in die Hand, lief die Treppen hinauf, in die große Bahnhofshalle. Dort stand ich kurz, umgeben von den vielen hektischen Menschen, die zu ihren Zügen hasteten, ich orientierte mich und rannte los so schnell ich konnte. Ich rannte in Richtung Freiheit.
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Plötzlich Erwachsen
Novela JuvenilFreiburg, 2023. Der 16-jährige Erik kommt zum neuen Schuljahr in die Oberstufe, in der er sich 2 Jahre lang auf sein Abitur vorbereitet. Er schöpft neue Hoffnung, endlich neue Freunde zu finden. Auf der Suche nach Anschluss in seiner Stufe nimmt er...