10. Kapitel: Angie

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Ich blicke in German's trauriges Gesicht. Er öffnet den Mund, vermutlich um etwas zu erwidern, doch schließt ihn augenblicklich wieder. Ein Schatten huscht über seine braunen Augen, ich erkenne die Tränen in seinen Augen. Wegen mir? Weil ich ihn abgewiesen habe? Warum tut er das, Esmeralda wird es sicherlich nicht gefallen, wenn ihr Ehemann um mich weint. Er wendet den Blick von mir ab und geht mit gesenktem Kopf zu Violetta. Er nimmt ihre Hand und zieht sie hinter sich aus dem Raum. Wieso, verdammt nochmal, habe ich nun ein schlechtes Gewissen? Er hat mich verletzt, er hat mich ignoriert, ohne ihn wäre ich vermutlich nicht hier. Hier, in diesem Krankenhaus, in dem ich eigentlich gar nicht sein möchte. Ich möchte nur weg hier, zurück in meine Wohnung, zurück in mein eigenes Leben, zurück um mich mit Violetta zu unterhalten. Und mit German. Doch davon kann ich im Moment vermutlich gerade mal träumen. Monsieur Bouvier sagte mir, dass ich noch ein paar Wochen hierbleiben müsse. Besuch dürfe ich empfangen, aber wer will mich schon sehen? Mit German hatte ich es mir ja wohl endgültig vermasselt. Ich merke, wie zum erneuten Male Tränen in mir aufsteigen, Tränen, alleine wegen German. Ungeachtet der Tatsache, dass Monsieur Bouvier mich beobachtet, stehe ich vorsichtig auf. Meine Knie zittern, fühlen sich an wie aus Gummi, doch ich wanke bis zu meinem kleinen Fenster. Dort laufen sie. German und Violetta. Als wäre kein Glas zwischen uns, strecke ich meine Hand aus. Mein Atem beschlägt die Scheibe. Sie werden nicht mehr kommen, nie mehr, so wie German geschaut hatte. Und ich war Schuld daran. Ich beobachte, wie meine Nichte ihrem Vater behutsam über den Rücken streicht, er läuft mit gesenktem Kopf den Weg entlang. Da wendet Violetta plötzlich ihren Kopf und fängt meinen Blick auf. Sie deutet ein Telefon an und ich nicke. Verständlich, sie will mich anrufen und mich fragen, was ich mit ihrem Vater angestellt habe. Wenn sich auch noch Violetta von mir abwendet, bleibt mir niemand mehr. Pablo hatte ich mit meiner Aktion verletzt, German ist enttäuscht von mir, was ich zwar absolut nicht verstehe, ich meine, er hat seine Frau und Violetta ist für mich wie meine eigene Tochter. Wenn sie sich auch noch von mir abwendet, hätte ich alles verloren, was eine Bedeutung für mich hat. Ich merke erst, das ich weine, als meine Tränen den Ausschnitt meines Krankenhaushemdes befeuchten. Super, für Monsieur Bouvier muss ich ein tolles Bild abgeben, ein nervliches Wrack, dass überwiegend aus Tränen besteht. Vorsichtig laufe ich zu meinem Bett und decke mich zu. Die Decke ist zwar etwas steif und hart und riecht nach Krankenhaus, aber eine Decke bedeutet Wärme und Wärme bedeutet Geborgenheit. Na herzlichen Glückwunsch Angie, dein bester Freund ist eine unangenehme Decke. Gegen meinen Willen muss ich lächeln. So weit sind wir also schon, Monsieur Bovier hat sicher schon einen Termin für eine Therapie ausgemacht, so wie ich mich gerade benehme. Mit den Gedanken an German, gleite ich in einen unruhigen, aber wenigstens traumlosen Schlaf.

Ein schrilles Klingeln weckt mich schließlich. Blinzelnd versuche ich das Geräusch zuzuordnen, es kommt mir bekannt vor, nur woher? Mein Blick wandert nach rechts und da finde ich die Ursache des Schlafstörers. Es ist mein Handy, welches mit hellem Display vibrierend auf dem kleinen Nachttisch liegt. Es ist Violetta. Ich habe Angst, zurückgewiesen zu werden, doch ich nehme ab. "Hallo?", melde ich leise. "Hier ist Violetta. Papa liegt in seinem Zimmer und schläft, er war ziemlich fertig. Was war da los?", fragt sie munter. "Es tut mir Leid, Violetta, das musst du mir glauben. Ich wollte deinem Vater nicht weh tun, aber trotz alldem verstehe ich seine Reaktion nicht. Er ist der Grund dafür, wieso ich hier bin, er ist der Grund wieso ich Buenos Aires überhaupt verlassen habe, er ist der Grund, weshalb ich mich in meiner Wohnung verkrochen habe und nur ein paar Lieder komponiert habe, er ist der einzige Grund, ich weiß nicht. Ich kann nicht mehr Violetta. Bitte, es tut mir Leid. Ich verstehe deine Empörung, aber verzeihe mir", platzt es aus mir heraus. "Angie, ich bin nicht sauer. Ich mache mir Sorgen um dich", sagt sie sanft. Nicht sauer? Es sah aus, als hätte ich German zutiefst verletzt, und sie macht sich Sorgen? "Hör mir zu Angie, du bist der Grund wieso er seine Verlobung mit Esmeralda aufgelöst hat, als er deinen Brief gefunden hat. Er liebt dich", fährt sie fort. German ist nicht mehr verlobt? Das erklärt, wieso er überhaupt hier ist. Aber Liebe? Solange, bis wieder eine neue Frau auftaucht, die nicht mit ihm verwandt ist, die ihn nicht an Maria erinnert, die weniger kompliziert ist. Nicht jemanden wie mich. "Vilu, glaube mir, was auch immer German für mich empfindet, ich habe es zerstört und ich weiß nicht, was ich gerade denken soll. Es ist einfach zuviel! Gut, dann hat er eingesehen, dass Esmeralda nicht die richtige Frau für ihn ist, aber ich bin es auch nicht. Und das weiß dein Papa genauso wie ich. Verdammt, Vilu, wenn ich nicht mal selbst mit mir klar komme, wie soll es dann jemand anderes mit mir aushalten?", gebe ich kläglich von mir. Warum konnte es nicht einfach einmal einfach sein? Ich hatte mir geschworen, dass alles was German angeht, mich nicht mehr verletzen kann, meinem überstrapaziertem Herz nicht noch mehr Schaden anrichten kann, aber das hat ja mal nicht funktioniert. In der Leitung ist es still. Jetzt ist es auch Violetta zuviel. "Angie, nein! Mach dich nicht kaputt, ich brauche dich! Mach es dir nicht so schwer!", ruft sie verzweifelt, ich höre, dass sie den Tränen nah ist. "Violetta hör mir zu. Du bist das Wichtigste für mich auf der Welt, ich möchte dich nicht verlieren, aber es wird das Beste sein, wenn du und German zurück nach Buenos Aires geht. Ich tue euch nicht gut! Denk bitte darüber nach", flüstere ich. "Gib dich nicht auf!", sagt Violetta flehend zum Abschied und legt auf. Ich verspüre das Gefühl der Leere in mir drin, ein Loch, das sich ausbreitet wie das Gift einer Schlange im Körper ihres Opfers. Meine Arme und meine Beine werden taub, mir wird plötzlich heiß und ich beginne mich im Bett hin und her zu winden. Das Gerät neben meinem Bett fängt an zu piepsen. Für was genau es zuständig weiß ich nicht, es hat etwas mit Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz zu tun. Ich höre die quietschenden Schuhe von Monsieur Bouvier und spüre etwas Kaltes in meinem Arm, dann wird es dunkel um mich. Das Letzte was ich sehe, sind die mit Tränen gefüllten braunen Augen von German vor meinem inneren Auge. 

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