20. Kapitel: Angie

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Langsam lässt der Schwindel nach und mein Sichtfeld schärft sich wieder. Ich löse meine verkrampfte Hand von der Wand und blicke German ängstlich an. Was ist, wenn der darauf besteht, dass ich in die Klinik zurück muss? Ich kann dort nicht wieder hin, das geht nicht! Wenn ich einfach mit Violetta rede und die beiden gehen, kann er nicht mehr darauf bestehen. "Ich mach's", verkünde ich. Ich hoffe, dass German nicht merkt, wie sehr meine Stimme zittert. Er scheint es nicht wahrzunehmen, ein Lächeln huscht über sein Gesicht und vertieft seine Lachfältchen. Was wird Violetta mir nur sagen? Niemand würde mich doch freiwillig zur Tante haben wollen. Violetta hat jemand besseren verdient, jemand, der auch wirklich für sie da sein kann, jemand, auf den sie sich verlassen kann, nicht so jemanden wie mich, die nicht einmal eine Schüssel Suppe hinunter bekommt. Ich spüre Germans Blicke auf meinem Rücken. Ich muss. Meine Hände zittern als ich langsam die Türklinke nach unten drücke. Ich habe Angst. Angst, eine weitere Person in meinem Leben zu verlieren. Ich wische mir mit dem Handrücken über mein Gesicht und laufe schnell zum Klavier. Ich muss mit Violetta reden, bevor ich es mir anders überlege und davonlaufe. Da sitzt sie. Das braune Haar weich über die Schulter fallend, die Finger auf den Tasten. Sie spielt ohne jeglichen Ton, ohne die Tasten zu drücken. Bei meinen Schritten schreckt sie auf und hebt den Kopf. "Angie", flüstert sie, mehr nicht. Tränen der Verzweiflung tauchen in ihren Augen auf, sie steht langsam auf. "Angie, es tut mir Leid, du musst mir glauben! Ich wollte dich nicht verletzen, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist!", raunt sie leise. "Vilu, nicht du musst dich entschuldigen, das ist meine Aufgabe. Ich sollte eine gute Tante sein, aber ich bin es nicht. Es tut mir Leid", murmele ich leise. Wie soll ich ihr nur erklären, dass sie zurück nach Hause muss? Meine Nichte schaut mich verzweifelt an, immer noch brennen Tränen in ihren Augen. "Hör mir zu Vilu. Nimm deinen Papa und geh mit ihm zurück nach Buenos Aires. Du wirst dort gebraucht, es ist deine Bestimmung. Mach dir deinen Traum nicht durch mich kaputt. Du musst!", versuche ich es sanft, aber eindringlich. Violetta schüttelt heftig den Kopf. Jetzt fließen bei ihr die Tränen. "Nein! Angie, du machst dich kaputt! Ich kann dich hier nicht alleine lassen, verstehst du denn nicht? Das Studio kommt auch ohne mich klar, aber du nicht!", flüstert sie verzweifelt. "Ich will das nicht Vilu! Fran, Cami, Leon und all die anderen, sie warten auf dich. Pablo braucht dich für die nächste Show, so geht das nicht weiter. Ich kann auf mich selbst aufpassen, aber du hast da etwas Gewaltiges vor dir, dein Traum! Gib ihn nicht meinetwegen auf. Geh mit German zurück", versuche ich es weiter. Violetta zögert. Ich weiß genau, dass sie weiß, dass ich Recht habe. Sie kann mir nicht mehr helfen, aber sie kann sich helfen. "Was sagt Papa?", fragt sie leise und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. "Er stimmt mir zu. Es ist das Beste für dich", antworte ich ihr erschöpft. All das zejrt an meinen Nerven. Es ist das Beste, wenn German und Violetta ihre eigenen Wege gehen ohne einen Klotz wie mich am Bein zu haben. "Ich möchte mit ihm sprechen", sagt meine Nichte. "German sitzt auf der Couch", antworte ich und deute auf mein Wohnzimmer. Violetta öffnet die Tür, dreht sich aber noch einmal um und geht auf mich zu. Dann umarmt sie mich fest und drückt ihren Kopf an meine Schultern. Ich spüre, wie mir ein Stein von meinem Herzen fällt. Sie hasst mich nicht, sie läuft nicht vor mir davon, sie schreit mich nicht an. Ihre bedingungslose Liebe ehrt mich zutiefst. 

Ich folge Violetta, als sie zur Couch läuft mit etwas Abstand. Deshalb ist meine Nichte diejenige, die German zu erst entdeckt. Er sitzt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Couch, seine Finger krallen sich so fest in die Decke, dass die Knöchel weiß hervortreten. "Papa?", fragt Violetta ängstlich und setzt sich neben ihm. Es muss sein Bein sein! Tatsächlich, durch seinen dicken Verband sickert Blut, der hintere Teil ist schon Blut getränkt. German muss schreckliche Schmerzen haben. "German?", frage ich ihn, doch er reagiert nicht. Seine Schmerzen sind zu stark. "Er muss dringend in die Klinik", stellt Violetta mit zitternder Stimme fest. Sie hat Recht, fahren kann er nicht, da muss wohl mein Auto herhalten. "Du musst mir helfen ihn die Treppe hinunter zubekommen, mein Auto steht vor der Tür", erkläre ich ihr kurz. Meine Nichte nickt eifrig. German ist zum Glück nicht ohnmächtig, trotz seiner Schmerzen hilft er uns, ihn möglichst ohne Komplikationen in mein Auto zu bugsieren. Verdammt, das einzige Klinikum in der Nähe, ist das, indem ich lange genug war. Und bei meinem Glück, laufe ich Monsieur Bouvier direkt in die Arme. Und ehe ich mich versehe, lande ich wieder auf Station. Ein Keuchen meines Schwagers ruft mich zur Vernunft. Ich muss. Egal wem ich begegne, hier geht es um meine Familie und die lässt man nicht im Stich. Ich gebe Gas. 

Wenige Minuten später halte ich vor der Notaufnahme. Ein Sanitäter eilt herbei und befördert German, der sich vor Schmerzen windet, auf eine Trage. Violetta springt aus dem Auto und rennt ihnen hinterher. Ich parke das Auto und renne ebenfalls in das Klinikum. Violetta kommt mir entgegen. "Papa hat etwas gegen die Schmerzen bekommen und wird gerade untersucht", sagt sie mir hastig. Ich lege einen Arm um ihre Schultern, sie ist den Tränen nahe, das merke ich. Ich spüre, wie mir wieder schwindlig wird, die Welt scheint sich zu drehen, schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Violetta darf nichts merken! Ich beiße mir auf die Innenseite meines Mundraumes, so heftig, bis ich Blut schmecke. Das reißt mich augenblicklich in die Gegenwart zurück. Violetta klammert sich noch immer an mich, sie scheint von meiner kleinen Attacke nichts gemerkt zu haben. Alles gut, Angie. Quatsch, nichts gut, denn wäre ich nicht so verdammt dumm zu ihm gewesen, wäre er nie fortgegangen und hätte sich nicht verletzt. Wäre ich nie Violettas Tante, würde es den beiden besser gehen! Wahrscheinlich würde Violetta gerade auf der Bühne stehen und nicht sich nicht ängstlich an mich kauernd, voll Angst um ihren Vater. Wie viel kann ein einzelner Mensch zerstören? 


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