74. Kapitel: Angie

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Ich sollte schlafen. Stattdessen liege ich nur auf dem Rücken auf meinem eigenen Bett und entdecke Muster auf der weißen Zimmerdecke, die trotz der Dunkelheit gut zu erkennen ist. Wahrscheinlich liege ich auch einfach schon lang genug wach, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Der Tag war anstrengend, aber jetzt bin ich hier. In meiner eigenen Wohnung, ein Schritt vor Buenos Aires. Schade, dass ich alleine sein muss. Ich könnte etwas Aufmunterung gerade echt gebrauchen. Eine merkwürdige Form von Melancholie hat von mir Besitz ergriffen und bringt mich um meinen Schlaf. Ich bin froh, dass ich hier bin, aber um lächeln zu können, muss ich mich dazu zwingen. Ist das das Fehlen meiner Familie? Ich habe mir eigentlich vorgestellt, dass ich meine nächsten richtigen Schritte nicht mehr alleine machen muss, aber das hat nicht funktioniert. Ich liege alleine hier. Und um mich herum herrscht absolute Stille und Dunkelheit. Beängstigend. Da kommt mir eine Idee. Ich stehe auf und wanke durch mein Schlafzimmer, bis ich in der Dunkelheit mit dem Fuß gegen einen Schrank stoße. Ich ziehe eine Schublade auf und krame meinen MP3 Player hervor. Wie lange habe ich schon keine Musik mehr mit ihm gehört? Das ist lange her. Ich lege mir zurück auf mein Bett, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren, schließe die Augen und lausche der Musik. Ich habe einige der Stücke, die ich hier komponiert habe, drauf gezogen und wenn ich sie mir so anhöre, steigen mir Tränen in die Augen. Jede einzelne Note, jeder Akkord ist durchzogen von Trauer und Schmerz, von Einsamkeit und Angst. Ich sehe mich vor meinem inneren Auge am Flügel sitzen, während mir Tränen warm über mein Gesicht strömen. Ich sehe Esmeraldas triumphierenden Blick vor mir, als sie mir von der Verlobung berichtet und verspüre den Schmerz, der darauf folgte. Meine Muskeln in meinem ganzen Körper sind aufs äußerste gespannt, als ich meine zusammengekniffenen Augen öffne und mich zwinge, langsam zu atmen. Ich will gerade die Musik ausschalten, als ich Violettas Stimme höre. Zart und freundlich singt sie ein Duett mit Leon und ich werde Zeuge ihrer Leidenschaft. Die sanften Töne schaukeln mich in einen einsamen Schlaf.

Gleisender Sonnenschein weckt mich am nächsten Morgen. Ich habe gestern Nacht vergessen die Vorhänge zuzuziehen, dementsprechend hell scheint die Sonne deshalb in mein Zimmer. Ich reibe mir müde die Augen, mein Körper ist noch von einer bleiernden Müdigkeit überzogen. Ich stehe auf, laufe zu meinem Schrank und genieße den Luxus, mir etwas aus meinen eigenen Sachen anziehen zu können. Kaum bin ich in eine Bluse und Jeans geschlüpft, wanke ich in die Küche. Wenn ich nicht sofort einen Kaffee bekomme, schlafe ich auf der Stelle im Stehen wieder ein. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand, sitze ich schließlich an meinem Tisch und starre aus dem Fenster. Ich puste mechanisch in die Tasse um sie abzukühlen, während meine Gedanken mal wieder auf Wanderung sind. Wenn diese Woche gut läuft, sitze ich bald an einem großen Tisch mit meiner Familie in Buenos Aires. Dafür muss ich lediglich stark sein und die Woche ohne Zusammenbruch durchhalten. Das werde ich schon schaffen, schließlich habe ich ein Ziel, für das ich kämpfen muss. Wenn ich das Ziel nicht erreiche und wieder zurück in die Klinik muss, oder sogar German und Violetta noch länger als eine Woche nicht sehen darf, weiß ich auch nicht mehr. Ich muss es einfach schaffen, mit allen Mitteln. 

Der Tag beginnt öde und trist. Ich habe keinerlei Kontaktmöglichkeit, aber gleichzeitig auch keine Aufgabe. Ich sitze abwechselnd auf meinem Bett, meinem Sofa und am Klavier, wo ich ein paar Melodien klimpere. Aber die Musik erreicht mich nicht da, wo sie sollte. Meine Gedanken haben sich zu einer dunklen Masse vereinigt, die in mir herumschwebt und jeden guten Gedanken verschlingt. Es ist eine Mischung aus Angst und Verwirrung, glaube ich. Kann man das irgendwie ausschalten? Ich will nicht so denken, aber die Umstände machen mich so, wie ich gerade denke. Ist das jetzt ein Rückschritt, ein Zeichen von Schwäche? Ich will das nicht! Es soll einfach vorbeigehen! Macht es Sinn, wenn ich mich einfach sieben Tage lang ins Bett lege, Tag und Nacht miteinander verschmelzen lasse, bis ich zu German darf? Ich fürchte nur, dass ich das nicht durchhalte, ich kann nicht stundenlang sitzen oder sogar liegen ohne etwas zu tun. Ich versuche es erneut am Klavier. Vielleicht finde ich ja eine Melodie, die beschreibt, wie ich mich fühle, die meinen Zustand widerspiegelt. Je weniger ich nachdenke und je länger ich spiele, desto zufriedener werde ich mit meiner Komposition. Ich sauge die Melodie auf, als wäre sie mein Sauerstoff und fühle mich augenblicklich besser. Die Macht der Musik ist einfach wunderbar. 

Abrupt breche ich mein Klavierspiel ab und stehe auf. Habe ich etwas Essbares im Haus? Ich muss etwas essen um zu German zu kommen. In der Küche durchwühle mich meine Schränke und stoße auf eine Packung Haferflocken, Haselnüsse, Datteln und getrocknete Äpfel, aus denen ich mir ein Müsli zaubere, das ich schnell vernasche. Dann laufe ich wieder in mein Schlafzimmer. Es ist so schrecklich still hier, ich brauche den MP3 Player um ein bisschen Musik in die helle Wohnung zu bringen. Ich weiß gar nicht, wo ich ihn heute morgen hin gelegt habe und durchsuche deshalb meinen Nachttisch. Doch dort finde ich ihn nicht, nur einige Blätter zusammengefaltetes, weißes Papier. Was sind das für Zettel? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich jemals etwas Geschriebenes oder Komponiertes in meinen Nachttisch gelegt habe. Neugierig, wie ich bin, falte ich das obere Blatt auseinander. Du bist es nicht wert. Pass auf, dass du German nicht verletzt. Kämpfe oder falle. Ich starre schockiert auf die wenigen Worte. Das ist meine Schrift, aber ich kann mich absolut nicht erinnern, diese Worte schon einmal auf geschriebenem Papier gelesen zu haben oder gar geschrieben zu haben. Ich falte die anderen Zettel auseinander und lese die kurzen Nachrichten, die ich an mich selbst geschrieben habe. Was willst du noch kaputtmachen? Keiner hält es aus. Ein schwarzes Loch ohne Gefühle. Leere Töne, leere Melodie, leeres Herz, leeres Leben. Erfolgreich zerstört. Notiz: Am Ende. Ich kann nicht mehr, es geht nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich fühle mich wie aus der Realität gezogen. Mein Blick bleibt auf den Zetteln hängen. Wie soll ich es hier in der Wohnung sieben Tage aushalten, wenn überall so etwas auf mich wartet? Es reicht mir schon ohne Erinnerungen. Das macht mich schon wieder fertig, ich spüre regelrecht, dass diese Entdeckung an meiner Energie zehrt. Ich weiß nicht, was ich denken soll, ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ich sollte jetzt das Richtige fühlen und denken, damit ich zu German kann. Ich vermisse ihn. Wieso kann er nur nicht hier sein, ich brauche gerade nichts mehr als eine feste Umarmung. Was ist jetzt die richtige Reaktion, die alle von mir erwarten? Was muss ich tun, damit ich zurück kann? Wie verdammt nochmal, besiege ich den Zweifel in mir? Es muss doch einfach alles wieder gut werden, es muss!

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