67. Kapitel: German

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Als Lucia mit dem Hauch eines Lächelns vor der Tür steht, ist mir eins sofort klar: Angie ist wach! Und es geht ihr gut! Ich lächle, das habe ich in den vergangenen vier Tagen kaum getan. Die Sorge um Angies Wohlbefinden hat auf meine Stimmung gedrückt, sie erheblich gedämpft, genauso wie bei Lucia, Violetta, Ramallo und Olga. Wir sind eine traurige, düstere, schweigende Gemeinschaft geworden, die sich mit einer Tasse Tee in der Hand gegenüber gesessen ist und schwarzen Gedanken hinterher träumte. Aber jetzt ist endlich Schluss damit und dafür bin ich unendlich dankbar. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch ausgehalten hätte, diese Hilflosigkeit, das schlechte Gewissen, der Anblick von Angies zerschundenem und geschwächtem Körper in diesem sterilen Bett auf der Intensivstation. Für Ironie war jede Menge Platz in mir, wenn ich die Klinik betrat freute ich mich beinahe jedes Mal, dass Angie auf einer normalen Station behandelt wurde, nicht mehr im psychosomatischen Teil. Aber für Ironie, Sarkasmus und Lügen war kein Platz mehr, wenn ich neben ihr saß, ihre kalte, schmale Hand zwischen meinen Fingern hielt und mit ihr sprach. Sie war und ist so wunderschön, selbst wenn sie schläft. Oder gerade dann, weil es nichts gibt, das sie in diesem Moment stören kann, weil sie nicht mitbekommt, was um sie herum passiert. Weil sie sich in diesem Moment für nichts und niemanden die Schuld geben kann. Wenn sie schläft ist sie unschuldig, wehrlos, zerbrechlich. Ich bekomme automatisch das Pflichtgefühl, sie beschützen zu müssen, aber sie ist in der Lage, sich selbst zu beschützen, sie braucht keinen Aufpasser. Auch wenn mich die Situation im Wald mich ab und zu daran zweifeln lässt. Ich habe so oft das Bild vor Augen, wie sie daliegt, wie Lucia nach Hilfe schreit, weil Angie so nah am Tod ist, wie ihr Tränen über die Wangen laufen und ich in meiner Starre gefangen bin und sie nicht trösten kann. Wie sie zusammensinkt und den Kopf an Angies Seite vergräbt, als sie alles getan hat, was sie kann. Wie der Wald schweigt, als würde er trauern. Dabei ist sie nicht tot, sie lebt und sie ist endlich wieder wach. 

Olga hat bereits eine Kanne Tee aufgesetzt, die jetzt fertig ist, passend zu Lucias Auftauchen. Violetta sitzt bereits am Frühstückstisch und stochert in einer Portion Rührei. Als sie Lucias Schritte hört, hebt sie den Kopf. Das Lächeln ihrer neuen Freundin und Vertrauten weckt die Lebensgeister in ihr. "Ist sie wach?", fragt sie sofort. Olga und Ramallo spitzen ebenfalls die Ohren. "Ja meine Süße, sie ist wach und es geht ihr gut. Sie ist endlich sicher über den Berg, sie hat es geschafft! Angie ist eine wundervolle Kämpferin, wenn einer das geschafft hätte, dann sie!", eröffnet Lucia uns. Ich habe das Gefühl, als fällt nicht nur mir eine unglaubliche Last von der Schulter. Sie ist wieder bei uns, sie ist erneut dem Tod von der Schippe gesprungen. Das Angie stark ist, war mir schon immer klar, aber wie stark sie wirklich ist, was da alles an Kämpfernatur in ihr schlummert, hätte ich nie gedacht. "Können wir zu ihr?", hakt meine Tochter neugierig nach. Ich blicke Lucia neugierig an. Sie zögert mir einen Augenblick zu lange ehe sie uns mitteilt:"Sie darf noch keinen Besuch empfangen, es ist noch alles zu frisch. Die Ärzte wollen sich erst noch ein genaues Bild ihres Zustandes machen, bevor wir sie besuchen dürfen, aber ich werde euch auf dem Laufenden halten, sie haben mir erlaubt, dass ich, solange Angie noch da ist, wieder als Schwester für sie arbeiten darf. Euch wird also nichts entgehen." Ich kenne Lucia jetzt schon eine Weile, in ihren grünen Augen zuckt etwas, das mir nicht wirklich gefällt. "Kann ich kurz mit dir sprechen? Unter vier Augen?", frage ich sie deshalb leise. Sie lügt uns an, dessen bin ich mir sicher. Sie nickt behutsam. Violetta scheint sich vorerst zufrieden zu geben und isst jetzt genüsslich ihr Ei, während Olga und Ramallo in ein angeregtes Gespräch vertieft sind. Es geht sicherlich um Angie, ein anderes Thema gibt es hier nicht, zu tief steckt uns die Sorge und die Angst in den Knochen. 

"Was ist German?", fragt mich Lucia wenig später nervös. Ich habe sie in das Schlafzimmer von Olga gebeten und sie ist mir bereitwillig gefolgt. Sie weicht meinen Blicken aus und das macht mich nervös. Was meint sie, vor uns verschweigen zu müssen? Stimmt etwas nicht? Ist die Lage ernster, als sie zugeben will? Will sie Violetta schützen? "Du hast uns eben nicht die Wahrheit gesagt, das habe ich gesehen. Was ist wirklich los?", frage ich sie und zwinge sie mit einem festen Blick mir in die Augen zu schauen. Es funktioniert, Lucia schluckt deutlich ehe sie mir leise antwortet:"Sie will euch nicht sehen. Keinen von euch, weder Vilu noch dich", rückt sie mit der Sprache raus. Irgendeine Hoffnung zerbricht in mir in tausend Teile. Angies Zweifel und Sorgen sind wieder da. Sie hält sich wieder für gefährlich, sie denkt, sie würde uns schaden, uns zur Last fallen. Wieso kann es ihr nicht einmal gut gehen? Wieso trifft ihre Essstörung ihre Psyche so stark? Wie konnte ich nur so naiv sein und mich an den Glauben klammern, dass alles endlich wieder gut sein wird? Ich hatte schon Bilde vor Augen, wie wir im Flugzeug sitzen, wie wir Violetta zusammen ins Studio bringen und sie für mich singt, während ich sie lächelnd am Keyboard begleite und ihrer wunderschönen Stimme lausche. Es ist nicht so, als würden ihre Zweifel sie schwach machen, auch ihre Tränen machen sie nicht schwach, es sind vielmehr Beweise dafür, wie stark sie ist. Auch wenn das in ihrem Fall bedeutet, dass sie lieber sich schadet als ihren geliebten Menschen. Das ist so verdammt selbstlos, dass ich hier und jetzt an Ort und Stelle in Tränen ausbrechen könnte. Ich habe die letzten Tage keine einzige Träne verdrückt und auch jetzt fühlen sich meine Augen leer, da sind keine Tränen. Da ist nur die zerfressende Sorge, die Angst, sie doch zu verlieren. Ich bin doch bei ihr, ich bin doch immer an ihrer Seite, bei ihr in Gedanken, egal wo ich mich befinde! Wieso ist es für sie so schwer, das zu verstehen und zu akzeptieren? 

Ich spüre Lucias betroffenen Blick auf mir ruhen. Ich verstehe, wieso sie uns angelogen hat. Ich bin froh, dass sie es getan hat, vor allem wegen Violetta. Sie gibt sich die Schuld daran, dass Angie weggelaufen ist und meint, dass es ohne sie nie soweit gekommen wäre. Dass Angie sie nicht sehen will, wäre sicherlich ein harter Schlag für meine Tochter. Ich weiß nicht, wieviel sie noch verkraften kann. Ich will es nicht wissen, ich werde stark sein für meine Familie, ich werde nicht zulassen, dass alles zerbricht. Ich werde zu Angie gehen, egal was sie will, sie muss wissen, dass sie nicht alleine ist. Sie denkt, sie hätte keinen Menschen, mit dem sie ohne Folgen über ihre Probleme reden kann, aber ich bin für sie da. Es ist mir egal, wie oft ich es ihr sagen muss, bevor sie es versteht und mit mir sprechen kann. Ich lasse sie nie allein, dazu bin ich nicht in der Lage. Ich liebe sie. "Ich liebe sie." "Ich weiß. Und sie weiß das auch", flüstert Lucia leise. Ich liebe Angie. 

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