66. Kapitel: Angie

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Ganz plötzlich ist die Müdigkeit und die Sehnsucht nach Schlaf aus meinem Körper verschwunden. Ich fühle mich leicht und gleichzeitig fühle ich gar nichts. Ich fühle zu wenig um es beschreiben zu können, meine Gedanken sind abhängig von meinen Empfindungen, die irgendwie abgestumpft sind. Was ist hier los? Ich fühle mich klar, aber trotzdem durcheinander, ich kann die Situation nicht einstufen und kann nicht planen, was ich tun soll. Ich warte auf ein Signal, eine Anweisung, irgendetwas. Aber da ist nichts und da kommt nichts. Ich kann mich nicht bewegen. Und da dringt ein Geräusch in mein Bewusstsein, erst langsam und dann wird es immer deutlicher, es wird lauter, dringt durch meinen Körper in meine Seele ein. Ein Ticken, das Ticken. Kaum habe ich meinen Gedanken zu Ende gebracht, drängt sie sich in mein Bewusstsein, die Uhr. Sie sieht noch so aus, wie ich sie in Erinnerung habe, diese filigrane Arbeit, das goldene Ziffernblatt. Irgendetwas an ihr ist anders, nur was? Das Licht pulsiert noch immer, die Uhr strahlt, als wäre in ihr eine kleine Sonne gefangen. Mit einem Schlag wird es mir klar, die Uhr läuft nicht mehr rückwärts. Aber was soll mir das jetzt sagen? 

Dann kehren plötzlich Schmerzen in meinen Körper ein, heftige Schmerzen, die mich daran hindern, ein Stöhnen zu unterdrücken. Es fühlt sich an, als wird mit der Schmerzenswelle sämtliche Luft aus meinem Körper gedrängt. Wo kommen die Schmerzen plötzlich her? Ich fühle mich ganz taub und dann verschwindet die Uhr und alles um mich herum, nur das Ticken bleibt als Nachhall in meinem Kopf gefangen.

Die Schmerzen sind nicht weg, als ich aufwache. Grelles Licht dringt durch meine geschlossenen Augenlider und blendet mich. Das stetige Ticken hat sich in ein Piepsen verwandelt und ich merke, dass jemand mit einer kalten Hand meine umklammert hält. Ich versuche meinen Kopf zu heben und die Augen zu öffnen, aber ein heftig stechender Schmerz in meinen Schläfen hindert mich schmerzhaft an meinem Vorhaben. Ich muss mich vorerst also auf meine anderen Sinne verlassen. Ich höre jemanden schluchzen, heftig, so, als wäre jemand wichtiges gestorben. Das Weinen zerreißt mich innerlich, es klingt so deprimiert, so, als wäre der Person das Herz für immer gebrochen worden. Ich möchte Trost spenden, doch meine Zunge klebt trocken an meinem Gaumen. Ich rieche frische Blumen, vielleicht Rosen, doch das Weinen hindert mich daran, mich drauf konzentrieren zu können. Ich bin mir sicher, die Person, die weint, wird von ihren Schluchzern geschüttelt, fühlt sich nutz- und machtlos und ist verzweifelt. Oh, wie kommt mir diese Situation bekannt vor. Wie oft saß ich schon auf meinem Bett, an meinem Klavier oder in einem Park und habe geweint, um mich, um mein Leben, um die Liebe? Ich weiß es nicht, so oft oder zu wenig, ich kann es nicht sagen. Endlich hat mein Körper Erbarmen mit mir und lässt mich meine Hand bewegen. Ich verwende also meine Energie darauf, der Person die Hand zu drücken, die die meine festhält. Augenblicklich hört das herzzerreißende Schluchzen auf. "Angie?", fragt die Stimme ungläubig, ich glaube, es ist Lucia. Ich möchte etwas sagen, doch ich kann nicht. Wenigstens meine Augen gehorchen mir soweit, dass ich sie einen Spalt öffnen kann. Es ist wahrlich Lucia, dich mich aus roten, geschwollenen Augen anstarrt. Verlaufene Mascara ziert ihre Wangen; es war Lucia, die so geweint hat. Sie reagiert sofort richtig, ganz die Krankenschwester und hält mir einen Becher mit Wasser an die Lippen. Gierig trinke ich einige Schlucke und schaffe es, meine Augen ganz zu öffnen. Dabei fällt mein Blick auf meine rechte Hand. Lucia folgt meinem fragenden Blick und erklärt:"Als wir dich gefunden haben, hat deine Hand geblutet, du hast sie dir irgendwo angeschlagen und das hat ziemlich geblutet. Wir mussten die Wunde nähen und verbinden, damit sie sich nicht entzündet:" Ich verziehe meine Mundwinkel nach oben, als Zeichen, dass ich sie verstanden habe. "Glaub mir, Angie, ich bin so erleichtert, dass du noch lebst, als wir dich in diesem Wald gefunden haben... Kaum Puls, die blasse Haut; du sahst aus wie tot und das warst du auch beinahe! Wir haben dich gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft, du wurdest wieder operiert und seitdem bangen wir um dich. Das waren die anstrengendsten vier Tage meines Lebens, naja, beinahe", fasst sie ihre Erleichterung zusammen. "Soll ich German und deine Nichte holen? Die beiden warten jeden Tag darauf, dass du aufwachst. Sie würden sich sicherlich unglaublich freuen, was meinst du?", fragt sie enthusiastisch weiter. Von der Traurigkeit ist nicht mehr übrig, sie scheint vollkommen munter. Doch ich deute ein Kopfschütteln an, ich will keine Gesellschaft. "Soll ich dich auch alleine lassen?", fragt sie weiter. Wieder verziehe ich mein Gesicht zu einer Grimasse. "Bis später, erhol dich gut", lässt sie verlauten, ehe sie das Zimmer verlässt.

Als die Tür zufällt, spüre ich, wie eine enorme Anspannung von mir abfällt. Die ersten Momente nach dem Aufwachen war mir gar nicht bewusst, was überhaupt vorgefallen war. Vor vier Tagen, wohlgemerkt. Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Ich war praktisch tot, wieso praktisch, wieso meint es das Leben so gut mit mir, dass ich dem Tod erneut von der Schippe gesprungen bin? Was gibt ihm das Recht, über mich zu richten, ohne meine Meinung anzuhören? Vielleicht hätte ich dieses Leben ja gar nicht gewollt, diese ständige Übervorsicht, die ab heute an den Tag werde legen müssen, die Sorge aller, die davon wissen und die Angst was trotzdem passieren kann. Vielleicht will ich das ja nicht, vielleicht wäre der Tod die bessere Entscheidung für mich gewesen, besser für meine Familie vermutlich allemal. Es schmerzt mir in der Seele, dass  ich das Gefühl habe, dass alle immer meinen, sie würden wissen, wann es mir gut geht, ab wann ich wieder Chancen habe und wie ich mich zu verhalten habe. Ich liebe Violetta und ich liebe German, aber die beiden werden niemals verstehen können, was in mir vorgeht, wie es mir geht und was ich in dem Moment brauche. Die Krankheit hat mich verändert und der Transformationsprozess ist noch nicht beendet. Psychosomatik. Punkt. Meine Meinung hat sich geändert, ich will mich nicht verstecken, ich will nicht lügen, ich will niemanden etwas vormachen, aber ich jetzt, wo ich weiß, was passieren kann und was das mit den Betroffenen macht, weiß ich nicht mehr, ob es so gut für mich und alle in meinem Umfeld ist, wenn ich mich bemühe, so schnell wie möglich wieder "gesund" zu werden. Dass nichts mehr so ist wie früher, ist meines Erachtens nach jedem bewusst, aber wie viel sich tatsächlich geändert hat, weiß niemand. Es tut mir so furchtbar Leid, ich weiß, dass es vor allem German verletzt, wenn ich ihn zurückstoße, aber ich weiß auch, dass ich den Gedanken nicht ertragen kann, wenn es ihm so geht, wie es Lucia ging, als sie meine Hand hielt. Er muss mir hinterhergegangen sein, er hat mich gesucht, bei diesem Unwetter sein Leben aufs Spiel gesetzt um meins zu retten und das macht die Situation so heikel. Ich liebe ihn und ich will ihn nicht verlieren, aber ich verliere ihn, wenn ich ehrlich bin und ich verliere ihn, wenn ich ihm etwas verschweige. Und ich ertrage beide Vorstellungen nicht, beides hinterlässt einen dumpfen Schmerz in meiner schmerzenden Brust, beide Vorstellungen treiben mir die inzwischen so verhassten Tränen in meine Augen. Ich kann German gerade nicht ansehen, ich muss wissen, was ich wirklich will, aber das wird so schwer! Ich kann diesen Mann nicht leiden lassen, er musste schon so viel durchmachen und ich weiß, wie sehr ihn mein Sichtweisenwechsel verletzen wird. Ich habe die Wahl zwischen Hölle und Hölle und egal welchen Weg ich einschlage, ich werde German verletzen. Wieso ist da dieses Psycho in Psychosomatik, wieso kann ich nicht einfach aufwachen, aufstehen und ein Leben leben, das losgelöst von allem Übel der Welt ist? 

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