36. Kapitel: Angie

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Ich kann nicht mehr denken. Als ich Germans Gesicht so nah an meinem gespürt habe, sein Blick auf mir geruht hat, bevor seine Lippen meine berührt haben, ab diesem Moment ist mein Kopf wie leer gefegt. Unsere Lippen, vereinigt zu einem Kuss, verzweifelt und zärtlich. Gefühle wallen in meinem Körper auf, bringen meine Haut zum Prickeln und verwirren mich. Was löst dieser Mann da bei mir aus? Nach einer wunderschönen Ewigkeit lösen wir uns langsam voneinander. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, was ich sagen soll. German scheint es ähnlich zu gehen, er hält den Kopf gesenkt und grinst vor sich hin. Als er bemerkt, dass ich ihn betrachte, hebt er den Kopf. "Was?", fragt er grinsend. "Ich mag dein Lächeln", antworte ich vorsichtig. "Deines ist schöner", antwortet er wie aus der Pistole geschossen. Meine Mundwinkeln zucken. "Lucia wartet auf uns", meint er und dreht sich zu mir um. "Kommst du?" Ich nicke. Seite an Seite laufen wir zurück zu der Bank. Der traurige Schimmer in Lucias Augen ist immer noch nicht verschwunden, aber ihre Tränen scheinen getrocknet. "Lucia, es ist nicht deine Schuld. Wenn ein Mensch für sich beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, kann niemand ihn von diesem Entschluss abbringen. Du hast dein Bestes getan, indem du bist zum letzten Moment bei ihr warst, du darfst dich damit nicht bis zu deinem Lebensende damit quälen!", sagt German leise und setzt sich neben Lucia auf die Bank. Ich finde es unglaublich nett, wie er sich um Lucia Sorgen macht. Lucia hebt verunsichert den Kopf und schaut mich an. "Ich kann keine Gedanken lesen. Ich kann nicht sehen, ob die Person neben mir wirklich das tut, was das Beste für sie ist. Ich hätte alles getan um sie davon abzuhalten, aber ich habe nichts gemerkt. Sie haben Recht, aber die Schuldgefühle lassen sich nicht abstellen", antwortet sie leise. "Schauen Sie in die Zukunft. Und seien Sie unbesorgt, Angie wird nichts passieren, ich werde sie nämlich nie wieder aus den Augen lassen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort", verspricht mein Schwager Lucia. Diese schaut ihn überrascht an. "Wirklich? Endlich!" Der Hauch eines Lächelns ziert ihr Gesicht. "Wir müssen los", merkt sie an. 

"German?", erkundige ich mich, als ich wenig später wieder in meinem weißem Zimmer bin. "Angie", erwidert er. "Danke. Danke für alles", sage ich leise. German lächelt mich sanft an und verlässt ohne ein weiteres Wort mein Zimmer. Ich stehe auf und gehe zu meinem Fenster. Inzwischen ist es dunkel draußen, das einzige Licht fällt von den einzelnen Straßenlaternen auf die Straße. Der Mond ist hinter den Wolken verschwunden. Ich sehe, wie German langsam einen Weg einschlägt, vermutlich den zu seiner Wohnung. Obwohl ich ihn kaum erkenne, sehe ich, wie er sich noch einmal umdreht und zu meinem Zimmer hinaufschaut.

Heute ist ein wirklich aufschlussreicher Tag gewesen. Meine Gefühle sind in Aufruhr, ich weiß gar nicht, wie ich später schlafen soll. Lucia hat mir offenbart, wieso sie immer spürt, wenn etwas mit mir nicht stimmt. Eine junge Patientin von ihr hat sich das Leben genommen, als Lucia dachte, dass es ihr besser gehen würde. Es muss für sie wie ein Schlag vors Gesicht gewesen sein. Ich denke oder vermute leider, dass ich bei German für ähnliche Gefühle gesorgt habe. Er hat mich geküsst, einfach so. Und es hat mir gefallen. Aber kann ich denn überhaupt noch so etwas wie Liebe empfinden? Mir war in letzter Zeit alles so gleichgültig, Gefühle waren ein Fremdwort. Kommt man davon so einfach weg? Wie merke ich, wo Liebe anfängt und wo Freundschaft und Sympathie aufhören? Ich bin ratlos, und dass sich gerade in meinem Kopf alles dreht macht es auch nicht besser. Vielleicht sieht die Welt morgen schon wieder ganz anders aus. Mal schauen, ob ich Schlaf finden kann.

Und das schneller als erwartet. Als ich aufwache, kann ich mich nicht mehr erinnern, vom Schreibtisch aufgestanden zu sein. Eine Tasse dampfenden Tees steht schon vor mir. Und ein Zettel: Monsieur Bouvier möchte dich noch einmal durchchecken. Er hat womöglich eine Idee, wo die Ohnmachtsanfälle ihren Ursprung haben. Ich trinke langsam den Tee und wache nach und nach vollständig auf. Die Ereignisse des vergangenen Tages sickern in mein Bewusstsein. Ich muss dringend noch einmal mit German sprechen, am besten gleich nach der Untersuchung. Meint er es ernst mit mir? Empfindet er tatsächlich so etwas wie Liebe für mich? Erst einmal ist es Zeit für Monsieur Bouvier.

"Mademoiselle Carrara, nehmen Sie bitte Platz", fordert er mich in seinem Büro auf und deutet auf einen Stuhl. Ich gehorche und warte gespannt auf das, was er sagen wird. Hat er tatsächlich eine Idee? "Ihre Essstörung hat in Ihrem Körper einiges angerichtet, vermutlich mehr, als wir bislang vermutet haben", beginnt er, "eine Ohnmacht entsteht dadurch, dass das Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Das kann verschieden Ursachen haben und die meisten haben wir schon mit negativen Ergebnis untersucht. Eine Möglichkeit, die wir noch gar nicht in Betracht gezogen haben, ist die sogenannte Aortenklappenstenose, bekannter als Herzklappenfehler. Dieser wird durch Herzrhythmusstörungen ausgelöst, wenn meine Vermutungen zutreffen, in Ihrem Fall wegen zu schnellen Herzschlages. Ich würde gerne mit Ihnen dazu einige Untersuchungen anstellen, wären Sie einverstanden?" Ich nicke. "Super, dann sehen wir uns heute Nachmittag. Und bleiben Sie nüchtern." 

Ich bin kaum wieder in meinem Zimmer, als German das Zimmer betritt. Er lächelt. "Wie geht es dir?", fragt er. "Soweit, so gut. Monsieur Bouvier hat eine Idee, wieso ich anscheinend so gerne in Ohnmacht falle. Ich werde später gründlich untersucht", antworte ich. "Was hast du auf dem Herzen?", fragt German mich plötzlich, ohne auf meine Antwort einzugehen. Ich schlucke. "Ich weiß es nicht, ich glaube, ich bin etwas überfordert", antworte ich wahrheitsgemäß. Unwohlsein scheint mein ständiger Begleiter geworden zu sein. "Wieso?", fragt German schlicht. "Diese Situation ist neu für mich, ich war lange Zeit so... anders und jetzt bin ich einfach nur ratlos", versuche ich meine Lage zu schildern. Was in mir vorgeht ist nicht in Worte zu fassen, ich verstehe einfach nichts. Ich bin wie zweigeteilt. "Liegt das an mir?", hakt er nach. Ich nicke langsam. "Gestern...", fange ich an, doch German unterbricht mich. "Der Kuss?", fragt er nach und nimmt mir die Worte aus dem Mund. Wieder nicke ich vorsichtig. Germans Gesicht verzieht sich. "Verdammt, Angie, ich hätte es wissen müssen! Das alles ist zu früh, ich hätte vorsichtiger sein müssen!", flucht er leise. "Vorsichtiger mit was?", frage ich nach. "Mit alldem. Ich...verdammt!", flucht er weiter. "Lass uns erst einmal die Untersuchungen abwarten, danach können wir uns weiter aufregen", versuche ich meinen Schwager zu beruhigen, doch es gelingt mir nicht. "Angie, da hast du es. Ich bin kein feinfühliger Mensch, ich habe dich komplett in Aufruhr versetzt, obwohl es zu früh war. Ich lasse dich jetzt besser alleine", tut er meinen Versuch, ihn zu besänftigen ab und verschwindet aus meinem Zimmer. Das war merkwürdig. Was ist "es"? Was ist zu früh? Natürlich, er hat ja Recht, ich bin durcheinander, momentan nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen, aber das hat andere Ursachen. Wahrscheinlich. Wie soll ich German das klar machen? Und wie mache ich ihm klar, dass ich nicht in der Lage bin, irgendetwas zu empfinden, geschweige denn ihm zu sagen wie sehr mir der Kuss doch gefallen hat? Wieso jagt ein Problem das nächste, wieso kann ich denn nicht ein einziges Mal meine Ruhe haben? Kann man Gefühle wiederbeleben? 


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