61. Kapitel: German

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Ich sehe Angie an, wie sehr ihr der Gedanke schmerzt, mit ihrer Mutter zu sprechen. Sie liebt Angelica, das steht außer Frage, aber vielleicht ist genau das der Grund, wieso sie nicht mit ihr sprechen will. Sie möchte sie schützen. Angie will einen Menschen nie mit ihren eigenen Problemen belasten, auch wenn sie selbst daran zerbricht. Aber manchmal muss man mit jemanden sprechen, alles in sich hineinzufressen ist nicht die Lösung, es macht alles nur noch schlimmer. Aber Angie wird telefonieren, da kenne ich sie gut genug. Es wird nicht leicht für sie sein, aber wenn sie es jetzt nicht tut, wird es für sie mit der Zeit nur schwerer. Ich nicke ihr aufmunternd zu. Violetta betrachtet ihre Tante sehr aufmerksam. Nichts auf der Welt ist ihr wichtiger als die Gesundheit ihrer Tante. Ich sehe es an der Art, wie sie ihre Stirn runzelt und ihre Augen zusammenkneift, dass sie sich Sorgen macht. Wie macht man seiner Tochter, die so erwachsen geworden ist, weis, dass sie sich keine Gedanken machen soll? Das geht nicht. Ich lege ihr eine Hand auf den Rücken und merke, wie sie sich etwas entspannt. Die unangenehme Stille wird unterbrochen, als Angie sich einen Ruck gibt und die Hand ausstreckt. "Dann muss ich das sofort machen", stellt sie mit festerer Stimmte fest, als ich ihr in dieser Situation zugetraut hätte. Ramallo scheint zu zögern, doch Olga rammt ihm entschlossen einen Ellenbogen in die Seite, was er mit einem bösen Blick in ihre Richtung kommentiert. Dann reicht er Angie das Handy. "Verzeiht, ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel, aber ich glaube, mir wäre es lieber, wenn ich alleine wäre. Nur, German, kannst du hierbleiben? Ich habe das Gefühl, als könnte ich einen aufmunternden Blick von dir gebrauchen", stellt sie leise ihre Forderungen. Ramallo, Olga und Violetta nicken sofort, natürlich, Angie schlägt keiner einen Wunsch aus. Als die drei das Zimmer verlassen, dreht sich Violetta noch einmal um und zwinkert mir zu. Ich kann mir ein Seufzen nicht unterdrücken, meine Tochter wird wohl nie aufhören.
"German, ich habe Angst", fängst sie an und schaut mich aus ihren großen blauen Augen unruhig an. Ich nehme ihre Hände. "Dir kann nichts passieren, ich bin bei dir und außerdem würde Angelica niemals etwas tun, was dir auch nur im Geringsten schaden würde, sowohl physisch als auch psychisch", versuche ich sie zu beruhigen. Ich habe das Gefühl, als würde Angie mir etwas sagen wollen, aber im letzten Moment scheint sie sich dagegen entschieden zu haben. Ich werde sie nicht drängen, mit mir zu sprechen, damit erreicht man oft nur das Gegenteil des eigentlichen Ziels. "Du schaffst das", flüstere ich ihr zu und dann nimmt sie das Handy. Es beunruhigt mich zu sehen, wie sehr ihre schmalen Hände zittern. Hat sie Angst mit ihrer Mutter zu telefonieren oder geht es hier um mehr? Ist da etwas, was ich nicht weiß, nicht wissen soll? Angie wird es mir erzählen, wenn sie es for richtig hält, da bin ich mir sicher.
Mit einem letzten gequälten Blick entsperrt Angie das Handy, wählt die Nummer ihrer Mutter und wartet ab. Dann stellt sie das Handy auf laut und legt es vor sich auf den Tisch. Um mich mithören zu lassen oder weil sie Angst hat, dass ihr zitternden Finger das Gerät irgendwann nicht mehr halten können? Die Zeit, bis jemand abnimmt Dauerschleife ewig, zieht sich wie Kaugummi. Und dann das erlösende "Carrara, wer ist da?". Angie atmet einmal durch, dann wirft sie mir einen unerklärlichen Blick zu und antwortet:" Mama, ich bin es, Angie." Stille. Ein nervöser Blick von Angie. Dann ein Ausatmen. "Angie! Ich dachte schon, dir sei etwas Schlimmes zugestoßen!",spricht sie ihre Erleichterung aus. Angie's Gesicht verkrampft sich, sie schweigt. "Ist denn doch etwas passiert? Wieso sagst du nichts, rede mit mir", bittet Angelica. "Es ist etwas passiert und ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen will und kann. Es ist, es ist einfach zu früh, Mama, ich kann nicht, auch wenn ich will, du hast die Wahrheit verdient, aber die kann ich dir nicht geben", antwortet sie leise. "Angie, du musst nichts tun, wobei du dich unwohl fühlst. Aber du machst mich echt krank vor Sorge, erst keinerlei Kontakt zu mir und jetzt kryptische Botschaften. Ich will dich nicht zwingen, aber ich denke, wenn du redest, geht es dir und mir besser", reagiert meine Schwiegermutter besorgt. Angie scheint in Gedanken alle Horrorszenarien durchzugehen, dann zuckt sie mutlos mit den Schultern. "Okay, ich serviere dir jetzt die volle Dosis", fängt sie mit bemüht fester Stimme an, doch die Sorge ist nicht zu überhören. "Ich war am Ende, ich habe es mit mir nicht mehr ausgehalten, mein Verhalten hat an mir gezerrt und mich Tag für Tag und Nacht für Nacht um meinen Verstand gebracht. Ich konnte nicht mehr. Ich bin gegangen und habe Schmerztabletten genommen. Überdosis. Ich dachte, wenn ich nicht mehr hiervon geht es alles besser, nicht nur mir selbst. Aber German war schneller als die Wirkung der Tabletten. Er hat mich wiederhingekriegt. Und jetzt schulde ich ihm mein Leben. Ich solle ihn dankbar sein. Bin ich. Und ich habe ein ziemliches Problem mit meinem Herzen als Folge meines Kontrollverlustes. Ich kann jeden Moment einfach umfallen und sterben, dann bin ich einfach weg und alles war umsonst. Ich weiß nicht wie ich das aushalten soll, ich kann jetzt schon nicht mehr, die Sorgen machen mich verrückt. Verdammt, Mama, ich bin am Ende meiner Kräfte!" Und dann laufen ihr Tränen über die Wangen, als würde sich ein Wasserfall auf ihren Wangen ergießen. Sie schluchzt nicht, lediglich ihr Körper wird von der Läßt der Tränen geschüttelt, als diese Strom über Strom ihr zarte Gesicht hinabfließen und auf den Boden tropfen. Ich eile an ihre Seite, stütze sie, als sie Gefahr läuft zusammenzubrechen. Ich helfe ihr auf einen Stuhl, reiche ihr ein Taschentuch, nehme ihre Hand, streiche ihr über den Rücken. Angelica schweigt und ich glaube, das ist der Grund, wieso Angie noch immer weint. Ich habe nicht gewusst, dass die Krankheit sie so sehr belastet. Sie hat ihre Maske aufgezogen und mit mir gespielt. Um mich zu schützen, weil sie mal wieder niemanden verletzen will. Diese Frau ist zu gut für die Welt und schlecht für sich selbst. Und ich bin gerade total hilflos. "Angeles", wie Magie tönt der Name durch das Handy. "Angeles, nimm das Handy in die Hand und hör auf zu weinen." Die Stimme ihrer Mutter klingt hart, unantastbar, undurchdringlich, unerreichbar. Angie zittert mehr als zuvor, streckt aber trotzdem ihre Hand nach dem kleinen Mobiltelefon aus. "Noch ist nicht alles vorbei, glaube an dich. Dein Leben ist zäh, vergiss das nie. Und German, danke, dass du dafür gesorgt hast, dass ich nicht meine letzte Tochter auch noch verliere. Verzeiht, aber ich brauche einen Moment. Denke an meine Worte, Angie, ich melde mich später wieder", spricht Angelica mit belegter Stimme. Sie beendet die Verbindung ohne eine Antwort abzuwarten. "Noch habe ich alles. Aber für wielange?", wispert Angie an niemanden gerichtet, dann vergräbt sie ihr Gesicht an meiner Schulter und schluchzt. Sie macht mir Angst. Ich dachte, alles sei besser, ich hoffe nur, das war keine Illusion. Was ist noch da, Angelica, Liebe, Familie, ich, ihr Leben? Zutiefst beunruhigt schließe ich meine Arme fest um ihren schmächtigen Körper. Jemand muss ihr ihre Angst nehmen. Und derjenige werde ich sein. Irgendwie. Ohne Tricks. So schnell wie möglich.

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