83. Kapitel: German

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Ich halte sie in meinen Händen, ich stütze sie, damit sie nicht fällt. Es ist die zerbrechliche Seite Angies, die gerade von ihr Besitz ergriffen hat. Ich hoffe nur, sie weiß, dass ich immer für sie da bin, immer an ihrer Seite, wenn sie Hilfe braucht, so wie in diesem Moment. Die Veränderung, die beim Lesen des Textes mit ihr geschehen ist, war spürbar. Sie ist erstarrt, zusammengesunken, hat geschluchzt und war gleichzeitig wie meilenweit entfernt, als wäre sie geistig nicht anwesend. Ich habe die ersten Wörter des Textes, den sie umklammert hatte nur überflogen. Bei diesen Worten kein Wunder, wie es ihr gerade geht. Es ist wohl eines der Dinge, die ich nie verstehen werde. Wie kann sie sich solche Dinge selbst geschrieben haben? Der Ordner ist randvoll gefüllt mit solchen Briefen, mit Hass-Briefen an sich selbst. Niemals werde ich verstehen können, wie es Angie wirklich gegangen ist, was sie beschäftigt hat, was sie in ihrem Inneren so zerstört hat. Es ist wieder eine dieser hilflosen Situationen, du sitzt einer Person gegenüber und siehst, dass es ihr nicht gut geht, dass sie mit sich kämpft, dass sie etwas fertig macht, aber sie spricht nicht mit dir. Und du weißt, egal wie gut du sie auch kennst, wie sehr sie dir auch vertraut, du wirst sie niemals so verstehen können, wie es ihr gut tun würde. Es ist beängstigend und doch führt dir diese Situation nur vor Augen, dass Menschen ihre Grenzen haben, dass es Dinge im Leben gibt, die jegliche Kompetenzen überschreiten. Und dagegen kann man nichts tun. Ich halte Angie einfach im Arm, der Ordner liegt auf dem Boden. Aber sie hat Recht. Sie muss damit abschließen, damit ihr Leben einfacher wird. Es wird niemals wieder unkompliziert sein, aber sie kann es sich vereinfachen. Aber eben dieser Weg ist oft steinig, kompliziert und nicht ohne Hilfe zu bewältigen. Angie weiß aber, dass ich immer für sie da bin, da bin ich mir sicher. Sie hat es mir schon oft genug gesagt, wir haben es uns oft genug bewiesen. 

Leben strömt zurück in ihre Glieder, sie bewegt sich unter meinen Armen, die sie festgehalten haben. Sie räuspert sich, löst sich aus meiner sanften Umarmung und wischt sich über die Augen. Sie sieht fest entschlossen aus, als ihr Blick mich streift. "Ich muss da jetzt durch. Ich hatte gewusst, dass es nicht leicht werden wird, aber ich habe dich an meiner Seite. Das hier durchzusetzen ist von enormer Wichtigkeit", verkündet sie und schaut mir tief in die Augen. Ich lächle. Es scheint ihr tatsächlich besser zugehen, wenn sie sich so schnell erholt. Sie wendet den Blick ab und greift mit einem lauten Aufatmen in die nächste Kiste. Notenblätter.  "Ich wusste gar nicht, wie viel ich tatsächlich komponiert habe", stellt sie überrascht fest, als sie auch die nächste Kiste öffnet. Dicke Stapel Notenpapier liegen darin, alle beschrieben, teils sogar mit Text. "Ich kann es kaum erwarten, dich eines deiner Lieder singen und spielen zu hören", zwinkere ich ihr zu und sie erwidert mein Lächeln. "Das wird das Erste sein, was ich mache, wenn ich endlich wieder im Studio bin. Ich werde meine Lieder spielen. Aber ganz alleine für dich. Niemand wird diese Lieder je zu hören bekommen, niemand außer dir und mir", wispert sie. 

Die restlichen Kisten sind schnell durchgesucht und verursachen keine neuen melancholischen Stimmungen. Taucht doch noch einmal etwas auf, von dem ich geglaubt hatte, es würde ihr nahe gehen, so zeigt sie es nicht. Sie muss eine verdammt gute Schauspielerin sein, wenn es sie wieder so schwer trifft und Angie in der Lage ist, das vor mir zu verheimlichen. Aber ich denke, sie ist ehrlich zu mir. Wieso sollte sie auch Geheimnisse vor mir haben? Ich kenne sie und sie kennt mich, da zerstören Geheimnisse nur alles Mögliche. Schließlich haben wir einen Haufen, auf dem der Ordner und ein paar weitere Notizen liegen, die entsorgt werden müssen. "Was willst du damit machen?", frage ich sie. "Ich kann sie nicht einfach in den Müll werfen, das passt irgendwie nicht", antwortet sie. Da fällt mir etwas ein. "Ich habe da eine Idee", murmele ich und verschwinde kurz im Nebenraum. "Wie wäre es, wenn du die Dokumente einfach schredderst?", schlage ich ihr vor. "Fantastisch!", ruft sie euphorisch und fällt mir um den Hals. Und so stehen wir vor dem Gerät, das nun Angies Vergangenheit Stück um Stück verschlingt. Die Papierschnipsel füllt sie eine kleine Dose. "So kann ich mich daran erinnern, was ich dank dir geschafft habe", meint sie auf meinen fragenden Blick hin. "Danke", meint sie und lächelt mich mit blitzenden Augen an. Wer kann da schon widerstehen?

Wenige Stunden später sitzen wir alle zusammen in einem der vielen grünen Parks in Paris. Nicht nur Violetta, Angie, Ramallo und Olga sind da, auch Lucia hat sich zu uns gesellt und unterhält sich prächtig mit meiner Tochter. Angie sitzt neben mir und strahlt über das ganze Gesicht. Sie ist so glücklich wie schon lange nicht mehr. Wird nun endlich alles gut? "Wann buchen wir die Flugtickets?", fragt Angie irgendwann. "So schnell wie möglich", antwortet Olga überschwänglich. Ihr fehlt ihre eigene Küche. "Wenn du dich gut genug fühlst, Angeles", meint Ramallo. "Ich bin jetzt bereit. Dank German bin ich endlich bereit", verkündet Angie und lehnt strahlend ihren Kopf an meine Schulter. Es ist ein wunderschöner Tag hier, keiner scheint einen trüben Gedanken zu haben, die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich. Es erstaunt mich so sehr, wer hätte gedacht, welch gutes Ende unsere Geschichte nehmen wird. Wie oft habe ich an einem guten Ausgang gezweifelt, wie oft war ich kurz davor auszugeben? Es hat sich gelohnt, dass ich durchgehalten habe. Wenn ich anschaue, wie mich Angie anschaut, dann hat sich jede Mühe und jede Anstrengung gelohnt. Ich hoffe nur, dass das auch so bleibt. Ich weiß nicht, wie viele Katastrophen noch überstanden werden können, bis es doch einmal alles zuviel wird. Und das will ich nun wirklich nicht mit erleben. Es wird schon alles gut werden und gut bleiben. Hoffentlich.

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Hey, mal wieder danke fürs Lesen, Voten und Kommentieren. Eure netten Worte und Votes machen mich stolz. Ihr zeigt mir, dass es euch berührt, was ich schreibe, dass die Inhalte ankommen und das ist fantastisch. Vielen Dank für die Unterstützung.

Ich muss leider sagen, dass ich noch nicht weiß, wie ich in den nächsten zwei Wochen zum Weiterschreiben kommen werde (Weihnachten und Silvester...), aber spätestens im neuen Jahr geht es weiter. Die Geschichte ist übrigens noch nicht zu Ende erzählt, da kommt noch was... Trotzdem wird es nicht mehr allzu lange gehen, aber wenn ich mir sicher bin, dass es auf das Ende zu geht, gebe ich euch selbstverständlich Bescheid.

Und jetzt, falls es vor 2017 nichts mehr wird, wünsche ich euch allen Frohe Weihnachten, genießt die Zeit und habt einen guten Start ins neue Jahr!! LG (:

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