97. Kapitel: German

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Es ist so still in dem kleinen Zimmer. Weiße Wände, weiße Decke, weißes Bett, weißer Tisch und weiße Stühle. Und selbst die Person, die im Bett liegt, passt sich diesem Farbschema an. Angies Gesicht ist so weiß, dass ihre Knochen dunkel hindurchschimmern. Waren wir hier nicht schon einmal, mehrmals? Mein sorgenvoller Blick auf Angies zerbrechlichen Körper gerichtet. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Ich hatte tatsächlich gedacht, dass alles vorbei ist. Dass jetzt alles besser wird, wir neu durchstarten können. Und jetzt liegt Angie hier, in ein künstliches Koma versetzt, da sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Ich will es mir gar nicht vorstellen, die Bilder, wie ich Angie gefunden habe, verbanne ich erfolglos aus meinem Kopf. Mir ist schlecht. Wäre das hier ein Film, wäre ich überzeugt davon, dass es ein gutes Ende gibt, aber ich habe schon zu oft erleben müssen, dass das hier die bittere Realität ist. Man kann hier nichts schön reden. Es gibt so viel zu verlieren, alles ist offen. Und ist das nicht alles meine Schuld? Ich habe das Gespräch mit Lucia angefangen, weshalb Angie weggelaufen ist. Wie soll ich nur mit der Schuld umgehen? Werde ich jemals in der Lage sein, das meiner Tochter anzuvertrauen? Lucia ist bei ihr, damit sie Violetta ablenkt. Aber sie ist schlau, Violetta wird schnell erkennen, dass wir versuchen, etwas vor ihr zu verstecken. Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende meiner Kräfte, ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte. Angie so zu sehen, bricht mir das Herz. Und das Gift der Schuld breitet sich mit jeder Sekunde, in der ich kein Lebenszeichen von Angie erhalte, weiter in meinem Körper aus. Verdammt, Angie hat es nicht verdient dort zu liegen. Ich werde nie verstehen, was sie zu all dem angetrieben hat, aber ich kann nicht aufstehen und sie alleine lassen. Sie und Violetta sind alles, was mir wichtig sind, denen beiden gehört mein Herz. Ich kann sie nicht alleine lassen, ich muss mich an der Hoffnung festhalten, dass doch noch alles gut wird. Aber keiner kann mir sagen, wie es um sie steht. Ob sie durchkommt oder nicht, hängt davon ab, ob ihr Körper noch einen Überlebenswillen hat. Angie muss kämpfen, wenn sie weiter unter uns weilen will. Und da meldet sich der Zweifel in meinem Kopf. Wenn Angie den schweren Schritt gewagt hat und sich mit dieser Glasscherbe die Pulsadern aufgeschnitten hat, was hält sie dann noch hier in diesem Leben? Sie hat sich gegen das entschieden, was sie hier noch hat, sie hat sich gegen ihre Familie entschieden, gegen ihre Heimat, gegen ihre Freunde, gegen sich. Wieso sollte sie jetzt kämpfen? Der richtige Zeitpunkt wäre doch vor diesem Entschluss gewesen und nicht dann, wenn sie sich innerlich darauf vorbereitet haben muss, dass sie nun dieses Leben auf dieser Erde verlassen will. Sie hat sich gegen mich entschieden. War und ist Angie der Ansicht, dass es ihr ohne mir besser geht? Gibt sie mir die gleiche Schuld, die ich mir gebe? Ich zittere, zum erneuten Male laufen mir Tränen über die Wangen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch weinen kann. Ich fühle mich innerlich so kalt, als hätte ein Eisklotz die Stelle meines Herzens eingenommen. Eissplitter für Eissplitter bohren sich meine inneren und seelischen Schmerzen in meinen Körper. Ich will doch nur wissen, wie es Angie geht. Ob sie wohl träumt? Ob sie an mich denkt? Was passiert, wenn sie es mir nicht verzeiht, dass ich sie nicht habe sterben lassen? Ich darf nicht daran denken, doch es lässt sich einfach nicht abstellen. Ich will hier raus, ich will nicht an diesem Bett sitzen müssen und mir solche Gedanken machen. Warum musste es soweit kommen? Was ist alles schief gelaufen, dass es soweit kommen konnte. Ich mache mir solche Vorwürfe. Was hätte ich alles verhindern können? Hätte es eine Möglichkeit gegeben, dass es Angie jetzt wirklich gut geht? Wann habe ich das verpasst? Die Fragen machen mich krank. Das Piepsen des Überwachungsmonitor macht mich krank. Meine Ängste machen mich krank. Ich schlage gleich alles zusammen, ich bin so verzweifelt, ich bin so am Ende meiner Kräfte. Was hier passiert, das sollte nicht sein. Nicht Angie. Niemand hat das verdient, aber schon gar nicht Angie. Und nun hängt alles ganz alleine an ihrem Willen.

"Verzeihen Sie, ich will Sie nicht stören, aber das hier haben wir bei ihren Sachen gefunden und scheint für Sie bestimmt zu sein", erklärt mir eine Schwester und drückt mir einen cremefarbenen Umschlag mit meinem Namen darauf in die Hand. Ich habe gar nicht bemerkt, wie sie das Zimmer betreten hat. Ich bedanke mich knapp und die Schwester verlässt das Zimmer, nachdem sie sich einige Werte notiert hat. Es ist unverkennbar Angies Schrift. Schwungvoll, mit vielen Kringeln, aber akkurat und ordentlich. Genau wie sie. Mit zitternden Fingern schiebe ich meinen Zeigefinger unter die Lasche und öffne den Brief. Ich ziehe ein dickes Blatt Papier heraus und starre es an. Angies Abschiedsbrief. Ich weiß nicht, ob ich ihn lesen will und kann. Doch dann falte ich ihn einer Eingebung folgend auseinander. Ich werde mich in diesem Moment Angie nur nahe fühlen, wenn ich ihre Worte an sie lese. Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel und beginne zu lesen. 

German, 

es tut mir so leid. Verzeihe mir. Ich würde gerne schreiben können, dass ich nicht weiß, was in mich gefahren ist, aber leider habe ich die Gewissheit, dass ich mir das nicht ohne Grund angetan habe. Wenn du diese letzten Zeilen von mir liest, werde ich nicht mehr bei dir und deiner wundervollen Tochter, meiner Nichte, auf die ich so stolz bin, sein. Es tut mir leid, ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich euch damit angetan habe. Dennoch habe ich den Entschluss getroffen, dass dieser Schmerz vorübergehen kann. Anders als die Tatsache, an deiner Seite dir nur eine Last zu sein. Ich habe mein Lachen verloren und keine Ahnung, wie ich es wiederfinden soll. Das Leben ist nicht mehr das, was es war, bevor ich begann, mich selbst aufzugeben, bevor ich begann, mich zu verabscheuen, bevor ich lernte, was Selbsthass wirklich bedeuten kann. Du bist für mich immer an erster Stelle gestanden, du hast es geschafft, mich für einige Momente aus dem tiefen Gefühl einer Selbstlosigkeit und Emotionslosigkeit herauszuholen. Und dafür hast du so viel gegeben. Ist dir bewusst, dass du dich vor lauter Sorge um mich beinahe selbst vergessen hättest? Du hast so viel für mich getan und hast mir so sehr geholfen, ich möchte, dass du das nie vergisst. Und dennoch, der Gedanke, erlöst von meinem eigenen Elend zu sein, hat mich nie erschreckt. Ich will frei sein und dass konnte ich schon lange nicht mehr. Das Gefühl morgens aufzuwachen und am liebsten für immer wieder einzuschlafen, wurde ich nicht mehr los. Ich ekele mich vor mir und meiner Wirkung auf andere und das macht es so schwer, glücklich zu sein. Glücklich bin ich nur, wenn ich meine eigene Identität verleugne. German, du hast mich den größten Teil meiner Reise getragen, ich vertraue dir. Egal, wie schlecht es mir auch ging, ich habe dich nie vergessen. Deine Blicke, dein Lächeln, den Kuss, mit dem du mir wochenlang Frieden geschenkt hast. Du warst mein Fels in der Brandung, alles wofür es sich gelohnt hat zu kämpfen. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du es schaffst vorwärts zu gehen, lerne aus meinen Fehlern und lebe dein Leben. Lebe es für mich mit. Vergiss mich nicht, behalte mich in deinem Herzen, aber lasse Platz für Neues. Und sage Vilu immer wieder, wie toll sie ist, wie sehr ich sie liebe und wie stolz ich auf sie bin. Dank euch beiden, war in meinem Herzen immer etwas Liebe und das hat einen unschätzbaren Wert. Vergib dir und verzeihe mir. Ich liebe dich für immer, Angeles

Ich lasse den Brief sinken, bin überwältigt von der Ehrlichkeit der Worte. Ich drücke den Brief an meine Brust, klammere mich an ihm fest. Meine Hand umfasst gerade ihre eiskalten Finger, als der Überwachungsmonitor ausschlägt. Ein langer Piepton erfüllt den Raum, ich zucke zurück. Ein Ärzteteam stürmt herein. "Verlassen Sie bitte den Raum", fordert mich ein junger Arzt auf. "Ich, ich....", stammele ich, doch da ist schon die Schwester, die mir den Brief überreicht hat, an meiner Seite und schiebt mich mit sanftem Nachdruck aus dem Zimmer. "Sie können jetzt nur noch hoffen, es tut mir leid. Es ist die letzte Chance, dass ihre Freundin eine zweite Chance erhält. Jetzt kommt es ganz alleine auf ihren Überlebenswillen an. Ich werde an sie denken", murmelt sie mitfühlend und lässt mich dann alleine im Gang stehen. Bitte Angie. Tu mir das nicht an. Geh nicht. Bleib bei mir. 

Germangie-DownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt