55. Kapitel: German

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Angies leichter, zerbrechlicher Körper lastet schwer in meinen Armen. Der Gedanke, dass gerade kein Leben in diesem Körper ist, jagt mir ungewollt eine Gänsehaut ein. Ich muss handeln, nicht, dass Angie noch etwas passiert. Ich schnappe mir mein Handy und rufe Monsieur Bouvier an. Hat er überhaupt gewusst, dass Angie bei mir ist? Bereits nach dem ersten Klingeln nimmt er ab. "Senior Castillo?", fragt er. "Ja, Angie ist bei mir. Wir haben uns unterhalten und plötzlich ist sie in meinen Armen zusammengebrochen und reagiert nicht mehr", berichte ich ihm nervös. "Ich bin sofort da. Wo sind Sie?", fragt er. Ich gebe ihm Angies Adresse durch und verabschiede mich. Sanft streiche ich eine Locke aus Angies eingefallenem Gesicht. Der Schlaf entblößt ihre Schönheit, wie sie ist, wenn nichts sie quält, wenn sie sich vor niemandem hinter ihrer kühlen Maske verbergen muss. Ich wünsche mir, dass das wieder Dauerzustand werden könnte. Ich würde alles mit ihr tun, wann immer sie möchte. Nur muss sie dazu wieder gesund werden. Und ich werde sie unterstützen, dass sie nie wieder denken muss, dass sie alleine ist. Ich werde ihr demonstrieren, dass auch sie ihren eigenen perfekten Tag haben kann. Ich werde ihr beweisen, dass sie überall Freunde hat und selbst in den dunkelsten Momenten die Musik immer für sie da sein wird. Ich werde alles tun, um sie in meine Arme schließen zu können. 

Wenige Minuten später klingelt es an der Tür. Monsieur Bouvier steht mit hochroten Wangen vor mir. "Danke für den Anruf, ich bin so schnell gekommen, wie es mir möglich war", begrüßt er mich hastig und geht schnellen Schrittes zu Angie, die noch immer ohne Bewusstsein in eine Decke gewickelt auf dem Sofa liegt. "Wie lange ist sie schon bewusstlos?", will er wissen, während er nach Angies Puls fühlt. "Ich weiß nicht, eine Viertelstunde vielleicht", antworte ich zögerlich. "Sie muss sofort in die Klinik!", stellt er wenige Sekunden später fest. "Etwas muss mit ihrem Katheter nicht stimmen, das hat starke Herzrhythmusstörungen verursacht, das sollte eigentlich nicht vorkommen. Können Sie fahren?", fasst er kurz zusammen. Ich verstehe gar nichts mehr. Verwirrt nicke ich und helfe dem Arzt, Angie hinauszutragen und in sein Auto zu bugsieren. Ich fahre wie abwesend, während Monsieur Bouvier mit der Klinik telefoniert und Befehle in sein Handy bellt. Als ich das Auto vor der Klinik abstelle, stehen schon zwei Sanitäter bereit, die Angie auf eine Trage legen und wegschieben. Monsieur Bouvier und ich folgen den beiden im Eilschritt. 

Erst als ich mit einem lauwarmen Pappbecher Kaffee vor der verschlossenen OP Tür stehe, beginnt mein Gehirn mich mit den Informationen der letzten halben Stunde zu speisen. Angie wird gerade notoperiert, es schien wirklich knapp gewesen zu sein. Wieso musste sie auch nur unbedingt zu mir kommen? Ich kenne die Antwort. Sie wollte loswerden, was sie schon so lange belastet und das hat sie erfolgreich erledigt. Sie war sich so unsicher, doch sie hat mir ihre Gefühle gestanden. Es muss schwer für sie gewesen sein. Genauso schwer, wie mir vorzuspielen, dass es ihr besser geht als es wirklich war. Vielleicht hätte ich mir mehr Gedanken über ihr Zittern machen sollen, sie über ihren Schwindel informieren sollen. Egal was ich mir jetzt für Vorwürfe mache, es ist zu spät. Angie liegt jetzt auf dem Tisch und was mit ihr passiert liegt nicht in meinen Händen. Zumindest im Moment nicht. Ich hoffe so sehr, dass alles gut wird, hoffentlich können die Ärzte Angie retten. Sie ist soweit gekommen, es kann jetzt nicht alles zu Ende gehen. Ich trinke einen Schluck Kaffee. Er ist würzig und sehr stark und katapultiert mich wieder in die weiße Gegenwart. Schwestern und Ärzte eilen durch die Gänge, jeder scheint zu wissen, wo er hingehört, jeder hat ein Ziel, einen festen Weg im Blick. Und ich? Was ist mit mir? Was will ich wirklich? Kann ich mir vorstellen, mein Leben mit Angie zu verbringen? Violetta würde das sicherlich gefallen und Angie hat mir ihre Gefühle eingestanden. Und ich? Ist das, was ich für sie empfinde tatsächlich Liebe? Oder ist es etwas, was einfach eine tiefe Verbundenheit, eine tiefe Freundschaft ausmacht? Ist es durch das entstanden, was wir gemeinsam durchmachen? Ich muss wissen, was ich fühle, ich muss wissen, was ich will bevor ich mit Angie reden kann. Sie darf nichts anderes hören als die Wahrheit und dazu müsste ich selbst sie kennen. Ich trinke einen weiteren Schluck des Kaffees und schließe meine Augen. 

"German, worauf wartest du?", lachend dringt Angies Stimme an mein Ohr. Es ist Hochsommer und Violetta und ich sind gemeinsam mit Angie an einen kleinen See gefahren, um einmal etwas Zeit ganz allein unter uns zu verbringen. "Ich bin schon so gut wie im Wasser", rufe ich ihr zu und streife mein Hemd ab. Angie steht schon im See, das Wasser reicht ihr bis zur Taille und Wassertropfen funkeln hell in ihren Haaren. Ein breites Lächeln ist auf ihrem Gesicht, welches ich einfach erwidern muss. Mit großen Schritten eile ich auf sie zu und mache einige Schritte in das lauwarme Wasser. Angie begrüßt mich, in dem sie mir lachend Wasser in mein Gesicht schüttet. "Na warte!", rufe ich und laufe weiter auf sie zu. Kichernd dreht Angie sich um und versucht weg zuschwimmen, doch meine Arme sind lang genug und ich schaffe es, sie am Oberarm zu packen und zu mir her zuziehen. "Hab ich dich doch", murmele ich leise. Plötzlich sind unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt, jegliche Worte ersterben auf meinen Lippen, als ich in Angies leuchtende Augen blicke. Meine Hand wandert zu ihrem Gesicht, bereit, die weiche Haut ihrer Wange zu spüren. Angie schließt die Augen. Dann ergießt sich plötzlich eine Lawine aus Wasser über Angie und mir und lässt uns auseinander fahren. Schwimmend grinst uns eine kleine Violetta an, die Augen leuchten verspielt, in ihren Händen ein großer Eimer. "Ich will auch mitspielen, eins zu null für mich!", ruft sie laut und patscht mit der Hand auf die Wasseroberfläche. 

Mehr brauche ich gar nicht denken. Ich weiß, was ich fühle, ich weiß, was ich Angie sagen muss und ich weiß, was ich tun muss. Jetzt muss nur noch Angie aufwachen und ich kann ihr alles beweisen. Ich werde jeder einzelnen Zelle in ihrem Körper beweisen, was es heißt, jemanden von ganzem Herzen zu lieben. 

Germangie-DownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt