34. Kapitel: Angie

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Minutenlang starre ich auf die geschlossene Tür. Ich weiß nicht, was ich gerade denken soll, in meinem Kopf herrscht totale Leere. Germans Worte waren wie ein Pfeil, der mich ins Herz getroffen hat. Vielleicht kommt der Punkt, an dem ich aufhören muss, gegen German zu kämpfen, sondern mit ihm. Vielleicht muss ich einen Schritt auf ihn zu machen anstatt zwei von ihm weg. German lässt mich nicht los, er lässt mich nicht im Stich, er glaubt an mich. Er sieht etwas in mir, das ich selbst nicht erkennen kann, weil meine Sicht getrübt ist. Ich habe die Tränen gesehen, die in seinen Augen standen, ich habe die Fragen gesehen, die ihm auf der Zunge lagen, all die unausgesprochenen Dinge. Etwas passiert mit uns, mit ihm wie mit mir. Und ich weiß nicht, was es ist und was ich davon halten soll.

"Angie?", fragt Lucia, die gerade die Tür zu meinem Zimmer öffnet und durch den Spalt schaut. "Komm rein Lucia", fordere ich sie auf. Sie schenkt mir ein warmes Lächeln und nimmt auf einem Stuhl Platz. "Ich habe deinen Schwager aus dem Zimmer sehen", stellt sie fest. Ich nicke. "Ja, German war hier", antworte ich. "Und?", hakt sie nach. "Was und? Er war hier um nach mir zu sehen, weiter nichts", beantworte ich ihre komische Frage. "Nichts was und Angie. Dieser Mann ist verrückt nach dir! Ich habe ihn erlebt, wie er sich Sorgen um dich gemacht hat, das kannst du dir niemals vorstellen! Du bist für ihn sehr wichtig und das setzt du gerade alles aufs Spiel! Öffne deine Augen, es gibt wenige Männer auf der Welt, die so für eine Frau da sind", meint sie überschwänglich. Das hatte German auch gesagt. Ich verstehe es nur einfach nicht, wie kann ich für jemanden wichtig sein? Ich habe soviel kaputt gemacht, wegen mir ist Violetta von ihrem Vater getrennt, wegen mir haben so viele Leute gelitten. Verrückt nach mir, als ob. "Ich weiß nicht Lucia. German hat etwas Besseres  verdient als mich", antworte ich. Ich fühle mich unbehaglich, die Situation gefällt mir so nicht. "Etwas Besseres als dich wird er nicht finden", sagt Lucia kurz angebunden. Ich brauche einen Moment um mich zu fangen. "Das ist falsch. Er hatte jemand, der besser ist als ich. Meine Schwester. Wäre sie nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen, wären die beiden gewiss noch zusammen. Maria war so perfekt, jeder hat sie geliebt. Sie war mein Vorbild, sie war die Person, der ich mein ganzes Leben anvertraut hätte. Ich werde ihr niemals das Wasser reichen können", antworte ich nachdenklich. "Mein Beileid, aber hörst du, was du gerade gesagt hast? Maria ist tot, so hart das aus meinem Mund gerade auch klingen mag. German und seine Tochter brauchen jemanden und diese Person bist du! Du bist die Einzige, die die Lücke füllen kann, verstehst du?", erläutert Lucia. Lucia steht auf und geht zur Tür. "Ich komme später noch einmal, in Ordnung", sagt sie leise und verschwindet. 

Auf der einen Seite hat sie ja Recht, aber praktisch ist das Ganze unmöglich. Ich, diejenige, die hier im Krankenhaus liegt, soll die Person sein, die immer für German und Violetta da ist? Wie soll denn das funktionieren? Ich muss mit meiner Mama telefonieren, also schnappe ich mir mein sorgsam unter dem Kopfkissen verstecktes Handy und wähle die Nummer von Angelica. Sie nimmt bereits nach dem ersten Klingeln ab. "Wie geht es dir?", fragt sie sofort. "Mir geht es ganz gut, ich wollte einfach mal wieder deine Stimme hören", beruhige ich Mama. "Ich freue mich, Angie. Soll ich dich mal besuchen kommen?", fragt sie. "Nein, schon okay, kümmere dich lieber um Vilu", lehne ich ihr Angebot ab. Noch mehr Menschen hier sind absolut nicht nötig. "Angie, ich war gerade auf dem Weg ins Studio um Violetta abzuholen. Bist du mir böse, wenn ich dich später zurückrufe?", fragt sie zögerlich. "Nein, Mama. Bestell Vilu liebe Grüße von mir", verabschiede ich mich und lege auf. 

"Na los, machen wir einen kleinen Spaziergang", fordert mich Lucia auf. Sie steht neben meinem Bett und streckt mir eine Wasserflasche entgegen. "Frische Luft schadet nie und dieses Mal weiß sogar Monsieur Bouvier Bescheid", versucht sie mich zu überzeugen. Sie hat Recht. Wieso nicht? Die weißen Wände sind nun mal total unabwechslungsreich, was gibt es da Schöneres als die Natur? 

Eine halbe Stunde später sitzen wir nebeneinander auf einer Bank. Die Sonne scheint und blendet mich, doch das erinnert mich daran, dass ich echt bin. "Lucia, kann ich dich mal etwas fragen?", frage ich Lucia vorsichtig. Mich beschäftigt seit längerem eine Frage und dieser Moment erscheint mir günstig um diese zu stellen. Verwundert schaut Lucia mich an: "Natürlich" "Wieso kümmerst du dich so gut um mich? Wieso hast du immer ein offenes Ohr für mich und weiß immer ganz genau, wann ich dich brauche?", frage ich. Lucia schließt die Augen. "Du hast das Recht auf die Wahrheit. Du bist nicht meine erste Patientin. Vor ungefähr einem Jahr hatte ich ein 19 jähriges Mädchen zugeteilt bekommen. Nach dem Tod ihres Freundes ist sie in die Magersucht abgerutscht, hat alles vermeidet, was nach Kalorien aussah. Aber sie hat immer einen Weg gefunden, um Sport zu treiben, im Klinikum, draußen, keiner hat gesehen, wie sie verschwand, nur ihr leeres Zimmer wurde gefunden. Sie war alleine da, sie hatte keinen Halt und nahm immer weiter ab, ich und das Ärzteteam waren verzweifelt. Eines Tages kam ihre beste Freundin, die beiden hatten lange keinen Kontakt mehr, wie sie sich gefunden haben weiß ich bis heute nicht. Doch nach diesem Treffen ging es mit ihr wieder bergauf, ihr schien es immer besser zugehen. Ich war glücklich, ich dachte, sie wäre geheilt. Wir hatten schon einen Termin für ihre Entlassung inklusive psychologischer Nachbehandlung, da fand ich sie morgens in ihrem Bett. Tot. Sie hatte eine Überdosis an Tabletten genommen und ihr Leben einfach beendet. Ich habe einfach geglaubt, es würde ihr besser gehen. Ich habe nicht genau hingeschaut. Ich...", beendet Lucia ihre Erzählung. Lange versteckte Tränen lösen sich aus ihren Augen und laufen ihre Wangen hinunter. Ich ziehe sie vorsichtig in eine Umarmung und lege meine Arme um sie. Ihr Körper wird von heftigen Schluchzern geschüttelt, ihre Tränen durchweichen mein Oberteil, doch es ist egal. Ich muss für Lucia da sein. Ich habe Gänsehaut von ihrer Erzählung. Ich weiß nicht, was ich für sie tun kann, so gerne ich es auch möchte. Ist es das, was German sieht? Ist es das, worauf alles hinausläuft? Fühlt German sich wie Lucia gerade? Stelle ich so etwas mit den Leuten aus meinem Umfeld an? Bin ich noch zu retten oder ist schon alles verloren? Wie tief stecke ich fest?  


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