86. Kapitel: Angie

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Der letzte Tag vor unserer Abreise vergeht wie im Flug. Stunde um Stunde rauscht an mir vorbei und ich bin kaum in der Lage, einen Gedanken zu fassen. Lucia, German, Violetta, Ramallo und Olga behandeln mich mit Respekt, keiner scheint mich zu benötigen, sie scheinen meine Verwirrtheit zu verstehen und zu akzeptieren. Ich glaube, ich bin momentan einfach nicht in der Lage zu verstehen, was da gerade passiert. Nach so langer Zeit voller Schmerz und schlechter Erfahrungen zurück nach Argentinien zurückzukehren, in das Land meiner Heimat, aber auch der Heimat meines Schmerzes, das ist einfach noch unbegreiflich für meinen Verstand. Ich will unbedingt zurück, mein altes Leben wieder aufnehmen und glücklich sein. Auch wenn ich im Klinikum vorgewarnt wurde. Was soll in Buenos Aires denn groß auf mich warten? Meine Freunde sind und bleiben meine Freunde, meine Familie ist meine Familie und da es unmöglich ist, einem die Musik aus dem Leben zu nehmen, kann eigentlich nur alles gut werde. Es muss einfach. Ich werde es nicht noch einmal aushalten, wenn ich mich vor meinen Gefühlen verstecken muss. Es wird alles wieder gut und wenn es nicht gut ist, muss ich eben nachhelfen. Ich werde nicht zulassen, dass schon wieder etwas oder eher gesagt, dass ich unsere Familie erneut entzweie. Es ist wahr, ich habe Angst, dass ich wieder rückfällig werde, ich habe Angst davor, genauso, wie ich Angst davor habe, gesund zu sein. Ich war zulange in diesem Zustand zwischen Krankheit und Gesundheit um klar denken zu können. Es ist, als wäre meine Essstörung einfach zu einem Teil meiner Gedanken geworden, als wäre ich teilweise immer noch nicht geheilt. Ich habe versucht, mich bei einem Gespräch Lucia anzuvertrauen, aber ich denke, sie hat nicht ganz verstanden, was mich daran so erschreckt. Natürlich ist mir bewusst, dass Psychosomatik ihre Spuren hinterlässt, aber ich habe immer gedacht, dass es bei mir anders wäre. Dass ich nicht das klassische Krankheitsbild aufweise und stark genug wäre, gegen alle Studien hinweg langfristig geheilt zu sein. Aber wieso sollte auch ausgerechnet ich die Ausnahme sein? Gedanken an die Essstörung schrecken mich ab, aber sie sind präsent. Und doch versuche ich sie zu verdrängen. Ich möchte einfach nicht, dass die sie noch mehr Schaden anrichtet, als sie schon verursacht hat, ich tue das für meine Familie, für die Menschen, die ich liebe und für mich, um mir zu beweisen, dass ich stark sein kann. Wow, dass ist das erste Mal, dass ich mir meine Lage tatsächlich eingestehe und es fühlt sich richtig an. Mich vor mir selbst zu verleugnen macht keinen Sinn, aber mich vor anderen zu verleugnen, schützt die Beteiligten. Wenn man es lange genug denkt, dann glaubt man sicher daran. Ich erwische mich dabei, wie ich nach draußen starre, ohne etwas zu denken. Verdränge ich meine eigenen Gedanken zwischendurch? Ich habe nicht geschlafen, mich nur hin und hergewälzt und versucht, mich und meine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Wenn ich nur schlafen will, sind meine Gedanken natürlich präsent. Noch 17 Stunden, bis ich zurück bin.

Der Trubel am Flughafen lässt mich kalt. Ich sehe in die strahlenden Gesichter meiner Nichte und meiner neuen Freundin und merke erst dabei, dass auch ich lächle. Endlich geht mein Wunsch in Erfüllung. Wie oft habe ich mir gewünscht, Frankreich zu verlassen und jetzt wird er endlich wahr! Es dauert nicht lange und ich finde mich zwischen German und Violetta im Flieger wieder. 13 Stunden Flug, dann sehe ich endlich meine Freunde und das Studio wieder, kann meinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen und mir weniger Gedanken machen. "Ich freue mich so sehr auf Argentinien!", verkündet Violetta strahlend. Ich drücke ihre Hand und zwinkere ihr zu. "Und ich mich erst. Ich wusste gar nicht, dass man ein Land so sehr vermissen kann", verrate ich ihr. Sie grinst mich zur Antwort nur an und wir brechen in Kichern aus. German betrachtet uns stirnrunzelnd von der Seite, doch auch er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Manchmal wüsste ich gerne, was German denkt und wie es ihm innerlich wirklich geht. Ich kaufe ihm nicht ganz ab, dass die gesamte Situation spurlos an ihm vorüber gegangen ist. Aber er ist für mich da, zeigt mir immer wieder, dass ich von jemanden geliebt werde und beweist mir, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Aber zu welchem Preis? Ich will nicht, dass er sich für mich opfert. Er hat ein eigenes Leben, eigene Sorgen und ich will nicht die Person sein, die sein Leben verkompliziert. Aber wenn ich seinem Blick begegne wie gerade und ich all die Zuneigung und Wertschätzung in seinem Blick liegen sehe, dass zweifle ich an meinen Gedanken. German ist der einzige Mann, der es schafft, dass ich mich völlig frei und richtig fühle. Und dafür liebe ich ihn. 

Tatsächlich rasen die 13 Stunden Flug an mir vorbei. Während eines Filmes hat German seine Hand auf meine gelegt und da liegt sie immer noch. Ein schönes Gefühl. Drei Filme, lange Gespräche und einen kurzen Schlaf später landen wir in Südamerika. Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus. Kurz vor der Heimat, nur noch wenige Kilometer entfernt, bekomme ich es plötzlich mit der Angst zu tun. Doch wozu hat man Familie? Meine Nichte schnappt sich meine andere Hand und lächelt mich an, ohne dass ich etwas sagen muss. Hinter uns folgt Lucia, die Olga in ein angeregtes Gespräch verwickelt hat. Ramallo läuft wachsam neben Olga und scheint dem Gespräch zu lauschen. Und kaum haben wir unsere Koffer, sitzen wir schon in einem Taxi, das uns zur Villa bringt. Ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe des Taxis und genieße die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Mit geschlossenen Augen lausche ich dem argentinischen Straßenverkehr und den aufgeregten Stimmen meiner Familie. Und dann hält das Taxi an und ich stehe dem Haus gegenüber, welches ich für so viele Jahre nicht mehr betreten habe. Es hat sich nichts geändert. German tritt neben mich und nimmt mich sanft in den Arm. "Willkommen Zuhause", flüstert er mir ins Ohr und küsst mich sanft auf die Stirn. 

Ramallo macht sich daran die Tür aufzuschließen und betritt das Haus. Olga und Lucia folgen ihm prompt. "Worauf wartest du noch?", ruft Violetta mir zu und stürmt ebenso herein. Ich zucke mit den Achseln, grinse German zu und laufe ebenfalls durch die geöffnete Tür. Das Erste, das ich wahrnehme sind Stimmen. Und zwar mehr Stimmen, als die meiner Familie. Als diese Stimmen verklingen, als ich eintrete, verstehe ich die Situation. Einen Moment herrscht Stille, dann stimmt Leon ein Lied auf dem Flügel an und die Schüler des Studios stimmen alle mit ein. German legt mir von hinten einen Arm um die Schulter. "Du bist wunderbar", hauche ich ihm zu. Er lacht nur. So ist doch alles perfekt. Und hoffentlich hält das auch noch eine Weile an. 

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