56. Kapitel: Angie

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"Angie, Liebes, alles wird gut, die Menschen werden deine Stimme lieben!", flüstert mir meine Schwester in mein Ohr. Nervös knete ich den Saum meines Kleides. Ich bin wie zweigeteilt. Ein Teil von mir will unbedingt auf die Bühne, die Gäste der Hochzeit meiner Schwester glücklich machen und einfach nur singen, der andere Teil sträubt sich dagegen. Nervös suche ich nach Germans Blick. Sanft ruhen seine lächelnden braunen Augen auf mir, geben mir ein Gefühl der Sicherheit. "Du schaffst das. Ich glaube an dich", meint er und gibt mir einen sanften Stoß in Richtung Bühne. Er hat Recht. Ich schaffe das! Ich drücke meinen Rücken durch und eile mit großen Schritten durch die glücklich redenden Menschen auf die Bühne, ehe ich es mir anders überlege. Und als ich anfange zu singen, den Blick stets auf meine Schwester und ihren Mann gerichtet, bin ich so unglaublich froh. 

"Was bildest du dir eigentlich ein? Denkst du ernsthaft, du hättest Chancen bei German? German ist ein toller Mann, er verdient jemand Besseren als dich. Siehst du das nicht jedes Mal, wenn du an einem Spiegel vorbei läufst? Du bist ein Niemand. Und bist der Meinung, German könnte einen Gefallen an dir finden. Das erweckt ja glatt mein Mitleid. Schon einmal überlegt, dass das der Grund sein könnte, wieso er dich hier überhaupt noch duldet? Er hat Mitleid mit dir, vielleicht auch Schuldgefühle, schließlich hat er deine Schwester geliebt. Und jetzt liebt er mich! Ich gebe dir einen Tipp: Lege dich besser nicht mit mir an, du wirst sicherlich verlieren und jetzt geh mir aus den Augen!", zischt Esmeralda. Aus den Augen, aus dem Sinn? Von wegen. Ich tue wie mir geheißen, allerdings nur, weil ich ihr nicht den Gefallen tun will, mich weinen zu sehen. Sie hat es wieder einmal geschafft. Aber was, wenn an ihren Worten etwas Wahres dran wäre?

"Weißt du, was den Tag so perfekt gemacht hat? Es gab einen Grund zu feiern, wieso sollte man da über Dinge nachdenken, die dort nichts verloren haben?", fragt mich German. Ich möchte ihm von Herzen zustimmen, ihm für sein Verständnis und seine Hartnäckigkeit bedanken, doch ich kann nicht und das sage ich ihm auch. Ich will soviel sagen, doch meine Worte können meine Gefühle nicht zum Ausdruck bringen.

Nebel. Unscharfe Gestalten, eine Taschenlampe über meinem Gesicht. Ein Mundschutz. Ein nickendes, männliches Gesicht. Weiße Wände. Ich krame in meinem Gedächtnis nach einer Erklärung für diesen Zustand. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich in meiner Wohnung bin und mit German über seine Hochzeit mit Maria rede. Habe ich nicht gerade davon geträumt? Und was war da mit Esmeralda? Sie ist doch weg, das war doch alles nur ein Traum, oder? Jemand hält meine Hand. Ich fühle mich tonnenschwer, mein Kopf lässt sich nur schwer drehen. German? Ja, er ist es. Ein Traum, es war nichts anderes als ein Traum. Langsam gelangt wieder Gefühl in meine Glieder. Ich habe wieder die Kontrolle über meine Stimmbänder. "German", bringe ich heiser hervor. Er lässt mich nicht los, aber seine andere Hand schnellt zu einem Becher mit Wasser, den er mir vorsichtig an die Lippen führt. Gierig trinke ich einige Schlucke der Flüssigkeit, die mir die trockene Kehle hinabrinnt. "German", wiederhole ich, diesmal schon weniger kratzig. Er lächelt mich an, mit einem merkwürdig belegten Lächeln. "Angie, ich weiß, du bist noch schwach von der Operation. Das kann ich mir vorstellen, dein Körper musste enorm viel wegstecken, die OP kam in letzter Sekunde. Ein paar Minuten später und... Ich weiß, du willst vermutlich schlafen, die Reste des Anästhetikums loswerden um wieder klar zu denken, aber ich habe gerade den Mut dazu, mit dir zu reden und ich weiß nicht, wie lange dieser noch anhält", beginnt er. Er hat Recht. Mein Körper schreit nach Schlaf, kämpft gegen die Erschöpfung und ich muss mich dazu zwingen, meinem Schwager aufmerksam zuzuhören. Ich versuche zu verstehen, was mein Körper mir sagt, wenn ich Germans ernsten Gesichtsausdruck betrachte, die verkrampften Schultern beobachte und mir jeden Zentimeter seiner Erscheinung einpräge. Vertrauen? Definitiv. Zuneigung? Mehr als das. Was muss er mit mir besprechen? Er hat mir schon mehrmals das Leben gerettet, hat mich von einer Seite kennengelernt, die viele nicht einmal zu ahnen wagen, hat mich durch die schwerste Zeit meines Lebens geführt. Was kommt jetzt? Ich klebe geradezu an seinen Lippen, als er sichtlich nervös fortfährt:" Wow, ich habe gerade so hohe Anforderungen an meine eigenen Worte, dass ich nicht weiß, wie ich sie formulieren soll. Angie, ich, seit ich dich das erste Mal hier in Paris gesehen habe und heute, hat sich eine Menge zwischen uns geändert. Wir haben uns verändert, sind an den Herausforderungen gewachsen, haben uns Hindernisse gestellt, uns in wüste Ideen verrannt und überreagiert, nicht nur einmal. Dass wir uns heute gegenüberstehen, verdanken wir nichts anderem als uns selbst. Diese ganz besondere Verbindung zwischen uns beiden hat das möglich gemacht, uns über die Zeit hinweg Türen geöffnet, die wir sonst nie gefunden hätten. Chancen, uns von einer anderen Seite kennen zulernen, uns zu unterstützen und vor großen Dummheiten zu bewahren. Leider zu spät. Ich hätte eher merken sollen, wie schlecht es dir geht, ich hätte dich nicht gehen lassen sollen. Aber jetzt bin ich da und ich bin fest entschlossen, alles dafür zu tun, dass dir nichts mehr passiert. Ich habe in dir jemanden gefunden, dem ich blind vertrauen kann, der mich besser kennt als jeder andere auf der Welt, von dem ich weiß, dass er mich niemals im Stich lassen würde. Ich weiß das zu schätzen. Ich habe einige Zeit gehabt, mir darüber klar zu werden, was diese Verbindung bedeutet, was das ist, was uns so voneinander abhängig macht. Eine Symbiose- wir sind voneinander abhängig, zu unserem eigenen Vorteil. Diese Symbiose hat einen Namen. Liebe. Ich liebe dich Angie." 

Auf seine Worte folgen einige Momente Schweigen. Beinahe kann ich das Ticken einer Uhr hören, das jede Sekunde anzeigt. Germans Worte haben in mir Regungen ausgelöst, die ich nicht kannte. Ich zittere vor Rührung, Tränen bilden sich in meinen Augen, ein flaues Gefühl macht sich in mir breit. German sieht mich an, wartend, geduldig. Ich kämpfe gegen den Drang aufzustehen und wegzulaufen von dieser Situation. Kein Entkommen. Ich muss mich meinen Gefühlen stellen, muss sie dem Mann sagen, der meine Hand seit ich aufgewacht bin keine Sekunde losgelassen hat. Mein Herz flattert, der Monitor zur Überwachung meiner Herzfrequenz schlägt ebenfalls aus. Das kannst du Angie. Nimm deinen Mut zusammen, jetzt zählt es. "Das beste am Leben ist, wenn man jemanden gefunden hat, der all deine Fehler, Schwächen und Mängel kennt und dich trotzdem liebt. Ich habe Vertrauen in dich. Ich brauche dich. Symbiose, wie passend. German, ich liebe dich auch. Ich habe es vor nicht allzu langer Zeit unmöglich gehalten, so etwas zu empfinden, aber du hast mich eines Besseren gelehrt. Ich bin gerade so überwältigt, entschuldige...", murmele ich. Dann läuft eine Träne meine Wange hinab. "Schhhh, nicht weinen, ich bin bei dir", flüstert German und wischt mit seinem Daumen sanft die Träne von meiner Wange. "Der Weg zum Ziel ist weit", bringe ich noch über meine Lippen, dann überwältigt mich der Schlaf. Werde ich das schaffen? 

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