51. Kapitel: Angie

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Ich fühle mich, als wäre ich aus Eis. Alles ist kalt, eingefroren. Meine Bewegungen, meine Emotionen, mein Blut. Beinahe meine ich die schneidende Kälte auf meinen nackten Unterarmen zu spüren. Meine Worte scheinen Lucia und German ins Herz zu treffen, als wären es keine Worte, sondern Eiszapfen. Ein Schaudern durchfährt mich. Lucia scheinen die Worte abhanden gekommen zu sein und German sucht anscheinend nach den passenden. Ich sehe, wie er sein Gehirn durchforstet. Er wird nichts finden. Wie denn auch, was ist richtiger als die Wahrheit? Alles, was er jetzt sagen würde um meine Worte zu mildern, wären Lügen. Ihm scheint das gerade klar zu werden, auf jeden Fall entspannt sich sein Gesicht und er schaut mich betroffen an. Die Spannung im Raum ist greifbar. Unausgesprochene Worte lasten wie Gewichte auf unseren Schultern doch keiner wagt es, sich von der Last zu befreien. Keiner wagt es, da keiner die Konsequenzen kennt. Egal wie man es dreht und wendet, es ist und bleibt meine Schuld, dass Lucia ihre Heimat verlassen muss. Weil ich ein egoistischer Mensch bin, dessen Talent darin liegt, anderen zu schaden. Ein Satz, der die ganze Wahrheit über mich verrät. Es tut weh, ihn zu denken. Ein Eiszapfen in meinem Herzen. Bin ich so nutzlos? Es scheint Menschen zu geben, die nicht so denken, oder ist das nur mein Wunsch? Mich akzeptieren zu können? Wieso kann ich das nicht? Noch immer stehen wir mit gesenkten Köpfen da. Niemand wagt es, den Kopf zu heben. Zu meiner Überraschung ist es German, der sich schließlich einen Ruck gibt und redet." Hör mir zu Angie, bitte lass mich zu Ende sprechen. Hör gefälligst auf, dir solche Gedanken zu machen, das tut dir nicht gut. Wenn du dich aufgibst, ist alles vorbei, bitte, tu dir das nicht an, tu das mir, Lucia, Vilu und all den Menschen, die immer an dich glauben nicht an. Du bist nicht wertlos, du bist mit Vilu das Wertvollste in meinem Leben! Dein Lächeln ist wie ein Wegweiser, wenn du glücklich bist, dann bin ich es auch. Bitte, sei nicht so selbstzerstörerisch, hör auf damit, du kannst das", beschwört er mich. Ich halte meinen Kopf noch immer gesenkt. Wie kann ich ihn den in so einer Situation anschauen, wie soll ich reagieren? Wie hört man bitte auf zu denken? Eine Runde Gruppenmeditation? Quatsch, irgendwie ist das in mir drin, das kann man nicht einfach so nach Belieben an und ausschalten. "Du weißt, dass er Recht hat", führt Lucia fort. "Und du weißt, dass du ihm vertrauen kannst. Du weißt, dass du dich immer auf ihn verlassen kannst, er ist dein Wegweiser, denn er steht immer hinter dir und würde niemals gehen, bevor er weiß, dass nichts passieren kann. Du musst dich darauf einlassen, dich deiner Zukunft stellen, sonst kannst du nichts erwarten. Es liegt ganz alleine an dir, was aus deiner Zukunft wird." Sie hat Recht. German würde mich niemals fallen lassen. "Und wenn ich das nicht kann? Wenn ich zu schwach bin? Ein Stolpern auf meinem Weg und alles ist vorüber. Ein Stolpern und alles geht kaputt. Was kann mich daran hindern, einen falschen Schritt zu machen?", äußere ich meine Gedanken leise. "Keinen Gedanken über ein Stolpern zu verschwenden. Wenn du nicht daran denkst, kann dir nichts passieren. Wenn du nicht daran denkst, was passieren könnte, ist es unwahrscheinlich, dass dieser Fall eintrifft", bekomme ich prompt die Antwort von Lucia. "Ich weiß gar nicht, ob ich das wirklich will. Ein Leben danach, unter ständiger Beobachtung, dass mir ja nichts passiert, dass ich ja nichts falsch mache. Blicke von alten Freunden und Bekannten, Gerüchte von Unbekannten. Neugier. Sorge. Mitgefühl. Das ist ja noch das Schlimmste. Ich sehe es schon vor mir: In Buenos Aires, im Studio, lauter Leute, die alles wissen wollen, die gar nicht genug bekommen können von der psychisch gestörten Angeles. Will ich das wirklich?", frage ich in den Raum. Diesmal ist es mein Schwager, der das Wort ergreift. "Aber ein Leben so wie es jetzt ist, ist auf keinen Fall eine Option. Sorge bedeutet doch lediglich, dass du den Leuten wichtig bist, dass es ihnen Gedanken bereitet, wenn sie nicht wissen, wie es dir geht. Du schaffst das, bitte." Lucia lächelt. Das Eis ist gebrochen. German tauscht einen schnellen Blick mit ihr. "Ich habe keine Option", murmele ich leise. Lucia schaut mich erwartungsvoll an.  "Bitte, geht jetzt, ich brauche etwas Zeit für mich. Ich melde mich, wenn ich bereit bin, euch zu sehen und mit euch zu sprechen. Monsieur Bouvier wird verstehen, dass ich dich noch ein paar Tage brauche, das bestätige ich ihm gerne selbst. Bitte, gebt mir Zeit und verlasst mein Zimmer", teile ich meinen Beschluss mit. Lucia nickt mir zu und verlässt den Raum sofort. German aber tritt einen Schritt auf mich zu. "Tu es nicht für mich, denk an Vilu. Du bedeutest ihr so viel." Er drückt mir einen federleichten Kuss auf die Stirn, ehe auch er das Zimmer verlässt und die Tür hinter sich zu zieht.

Mit einem unterdrückten Schrei lasse ich meine Ellenbogen auf das Fensterbrett knallen. Ich danke dem Schmerz für seine erweckende Wirkung mit einem verkniffenen Lächeln. Die Uhr, der graue Raum. Läuft meine Zeit ab? Ist das jetzt der Moment, in dem ich mich entscheiden muss, wie mein Leben weitergeht? Ich schlage mit der Hand gegen die Wand. Ich brauche irgendetwas, aber ich weiß nicht was. Ich beginne ziellos von links nach rechts zu laufen, immer schneller. Mein eigener lauter Atem übertönt meine Gedanken und ich bringe es tatsächlich fertig, mich mit einigen Übungen auszupowern. Das ist das, was ich gebraucht habe. Ich streiche mir meine Haare hinter die Ohren und ziehe ein Blatt Papier hervor. Ich bin nervös. Ich stehe vor einer Entscheidung, die mein Leben nachhaltig beeinflusst und bin mehr als ratlos und überfordert. Ich will, dass es aufhört. Ich will, dass es endlich ein Ende findet. Ein Ende, dass eine Möglichkeit bietet, etwas für German zu empfinden. Ich kann dieses Gefühl nicht mehr aufhalten, es zerreißt mich. Vielleicht steht meine Lösung auch schon die ganze Zeit fest. Ich weiß, was zu tun ist. Ich hoffe, diesmal ist es das Richtige. 

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