58. Kapitel: Angie

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Ich schlucke schwer. Nicht aufgeben, Angie. Jetzt ist deine Chance, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Bleibe am Ball. Aber wieso muss an jeder guten Nachricht ein großes Aber daran gebunden sein? Das Schicksal scheint es nicht gut mit mir zu meinen, als wären die letzten Jahre leicht für mich gewesen. Ich soll mir jetzt also einen Bodyguard anschaffen, der möglichst schnell die Notruftaste seines Handys drückt, wenn mir die Luft in meinem Gehirn ausgeht und ich ohnmächtig werde. Klingt wunderbar. Aber egal, ich habe jetzt eine Chance, die ich nicht vorbeiziehen lassen werde. Es wird wieder Zeit, zu meiner Maske zu greifen, German soll besser nicht merken, wie es gerade in mir aussieht. Obwohl er eigentlich die Wahrheit verdient hätte. Seine Worte, die mich nie alleine lassen. Seine Blicke, die mich beruhigen. Sein einfach er, das mich glücklich werden lässt, egal wie mies es gerade aussieht. 

Auch jetzt ruht sein Blick auf mir. Ob meine Kampfansage in überzeugt hat, steht wohl in den Sternen. Auch er hat eine Maske, aber ich glaube, das ist ihm nicht so klar wie mir. Wieso auch nicht, Geheimnisse machen Menschen interessant und wenn jeder ein offenes Buch wäre... "Wir schaffen das, wir werden siegen", greift er meine Worte auf. Ich lächle gegen meinen Willen. Sein ständiger Optimismus gefällt mir. "Na dann", zwinkere ich ihm zu. Sein Lächeln ist nur halbherzig und erreicht seine Augen kaum. Was hat er denn nur? Ich möchte ihn gerade darauf ansprechen, als sich leise meine Zimmertür öffnet. Eine mir unbekannte Schwester betritt das Zimmer, in der einen Hand hält sie ein Tablett, mit der anderen Hand streicht sich nervös eine ihrer langen schwarzen Strähnen hinter ihr Ohr. "Guten Appetit", wünscht sie mir, ehe sie blitzschnell aus meinem Zimmer verschwindet. Das soll wohl Lucias Nachfolgerin sein. Der Unterschied ist enorm und der Gedanke, Lucia für eine Weile nicht sehen zu können, schmerzt mir mehr, als ich möchte. Im Raum herrscht Schweigen, Germans und meine Augen sind auf das graue Tablett auf meinem Nachttisch gerichtet. Darauf liegen zwei grüne Äpfel, eine kleine Schale Erdbeeren und etwas Müsli sowie ein Glas Orangensaft und eine Tasse Tee. Ich glaube, ich kann mir denken, was German sich gerade überlegt. Ihm ist die Situation mehr als unangenehm und mir geht es nicht anders. Um aus dieser Zwickmühle herauszukommen, gibt es nur einen Weg. Ich kneife meine Augen zusammen und schnappe mir eine Erdbeere. Sie sieht so perfekt aus, als wäre sie künstlich. Natürliche Perfektion ist -unnatürlich-. So rot, so schön. Ich weiß nicht, wieso ich diese unschuldige Beere solange betrachte. Sie kann schließlich nichts für meine Probleme. Runter mit dem Ding. Entschlossen stecke ich sie in meinen Mund und kaue sie langsam. Das leicht süße, frische Aroma breitet sich sofort in meinem gesamten Mund aus. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht und German erwidert es glücklich. Er schnappt sich ebenfalls eine und sieht dabei so glücklich aus, so jung und glücklich. Wegen einer gegessen Erdbeere? Was würde ich alles dafür tun, um ihn öfter so zu sehen. Es dauert nicht lange und wir sitzen uns gegenüber, die Schale zwischen uns stecken uns gegenseitig die roten Früchte in den Mund, bis die Schale leer und wir mit klebrigen Saft verschmiert sind. "Das rosa um deinen Mund steht dir", stellt German grinsend fest und fährt mit seinem Finger um meine Lippen herum. Ein wohliger Schauer durchfährt meinen Körper. Vorsichtig beugt er sich nach vorne, bis unsere Lippen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. Seine Hand an meiner Wangen scheint zu glühen, mir kommt es so vor, als würden aus seinen Fingerspitzen heiße Funken sprühen, die meine Haut verbrennen. Diesmal nehme ich mir ein Herz und überwinde den letzten Abstand zwischen uns. Seine Lippen schmecken herrlich nach Erdbeere, ich möchte ihn gar nicht mehr loslassen. Dennoch lösen wir uns nach einer Weile wieder voneinander. Eine angenehme Stille füllt den Raum, jeder hängt seinen Gedanken nach. Wie wundervoll die Zeit doch geworden ist. Dank German. Ohne ihn... Ich will mir die Alternative nicht vorstellen, er hat seine Tochter und seine Arbeit stehen und liegen gelassen um mir zu Hilfe zu eilen und es ist ihm gelungen. 

Durch ein hastiges Aufreißen der Tür und der darauffolgende Knall, schrecke ich aus meinen Gedanken hoch. Die Schwester von vorhin kann es kaum gewesen sein. Erwartungsvoll drehe ich mich um und starre in die grünen Augen von Lucia. "Was machst du denn hier?", frage ich sie verblüfft, ehe ich ihr um den Hals falle. "Denkst du etwa, ich würde dich alleine lassen? Ich habe mitbekommen, was passiert ist und konnte nicht tatenlos weiterpacken", antwortet sie mir überschwänglich. Dann wandert ihr Blick zu German. "Da ist aber jemand glücklich", meint sie zwinkernd. "Ich bin so froh, dass ihr endlich verstanden habt, wie wichtig ihr füreinander seit. Manchmal braucht man eben einen kleinen Tritt in den Hintern, nicht wahr?", fährt sie fort. "Wir können froh sein, dich zu haben", meint German, dem Lucias Redeschwall zu gefallen scheint. "Gehabt habt", verbessert Lucia automatisch und ihr Gesicht nimmt einen traurigen Gesichtsausdruck an. German und ich wechseln einen Blick. Sie weiß noch gar nichts davon? Dann wird sie jetzt wohl der Schlag treffen. "Nichts da, Monsieur Bouvier hat ein bisschen herum telefoniert, du kommst nicht nach Griechenland oder sonst irgendwohin, du kommst mit uns nach Buenos Aires!", eröffne ich ihr. Ihr Blick huscht von German zu mir und wieder zurück, als warte sie darauf, dass gleich jemand ins Lachen ausbricht und ihr erklärt, dass ich einen Scherz gemacht habe. Als nichts dergleichen geschieht, scheint bei ihr schnell der Groschen zu fallen. Mit einem unterdrückten Schrei fällt sie erst German und dann mir um den Hals. "Ich muss mich sofort bei Monsieur Bouvier bedanken", murmelt sie voller Enthusiasmus und verlässt das Zimmer. Lächelnd starre ich ihr hinterher. Wenigstens sie ist vollkommen glücklich.

Ich wende mich wieder German zu, der mit seine Gedanken wieder woanders zu sein scheint. Ich sollte ihn darauf ansprechen, was habe ich zu verlieren? "German?", fange ich an und er zuckt zusammen. "Ist etwas nicht in Ordnung?", frage ich nach. Sein Blick lässt meinen los und ich folge ihm zu meinem Tisch. "Ich wollte ein Taschentuch und bin dabei auf die Briefe gefunden. Was habe ich dir nur angetan? Ich war ein totales Monster, Esmeralda noch schlimmer, aber sie bist du los und mir vertraust du? Du hast dich gehasst, wegen Dingen, die ich gesagt oder getan habe. Diese Briefe haben mir einmal mehr vor Augen geführt, dass ich Schuld an dieser Situation bin. Angie, ich habe dich krank gemacht, nicht du bist das Problem, das war ich, verstehst du? Dein Herz muss größer sein, als alles andere, wenn du mir trotz allem vertraust", murmelt er leise. "German, es ist nicht deine Schuld, was passiert ist", versuche ich ihn zu beschwichtigen, aber er hat sich in Rage geredet. "Lass gut sein", unterbricht er mich. "Nein, es ist nicht deine Schuld!", fahre ich ihn an. "Du hast mich glücklich gemacht, schau mich an, mir geht es besser, dank dir. Du hast vielleicht einen Fehler gemacht, aber den hast du mehr als wieder gut gemacht. Bleib bei mir, ich brauche dich", fahre ich fort. "Wer dich alleine lässt, ist der größte Idiot auf der Welt", murmelt er schon überzeugter. Ich lächle. Schon besser.

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