45. Kapitel: German

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Ich kann meinen Blick nicht von der kleinen unscheinbaren Schachtel neben Angies Körper abwenden. 10-15% flüstert eine Stimme in meinem Ohr. Nein, nicht Angie. Es kann einfach nicht sein! Ich zwinge mich, Angie ins Gesicht zu schauen. Eine einsame Träne rinnt ihr Gesicht hinab und tropft auf den Boden. Ich suche ihren Blick, doch sie weicht mir aus. Was ist nur passiert? Was geht in ihr vor, was ich nicht verstehen kann? Kann eine einzige Krankheit einen Menschen so verändern? "Angie", versuche ich, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu richten. Bei der Erwähnung ihres Namens fährt sie zusammen. Was hat sie denn nur? "Wieso hast du Angst? Würde ich dir jemals etwas tun?", frage ich sanft. Angie schüttelt langsam den Kopf. "German, ich weiß es nicht. Es hat keinen Zweck, sieh es ein. Ich habe es schon so oft gesagt, du und Vilu, ihr wärt besser dran, wenn ich euch nicht wie ein Klotz am Bein hängen würde. Tu das, was ich nicht kann, nimm den nächsten Flieger und fliege zurück zu deiner Tochter nach Buenos Aires", antwortet sie. "Das ist sinnlos und das weißt du genauso wie ich. Was bringt es mir, wenn ich fliege? Abgesehen davon, dass alle endlos enttäuscht von mir wären, weil ich die tolle Angie nicht mitgebracht habe und somit Violetta erneut die Tante vorenthalten würde, kann ich doch nicht mit dem Gedanken leben, dass du hier sitzt und dir dein Leben kaputt machst! Verdammt Angie, wann siehst du es endlich ein? Dein Leben ist nicht am Ende, du entscheidest ganz alleine, was du mit deinem Leben machst und wie du es gestaltest! Dir stehen alle Türen offen, du musst nur den ersten Schritt machen und über die Schwelle gehen, der Rest erledigt sich von alleine! Woran ist das Problem? Du musst loslassen, dann ist alles ganz einfach", versuche ich sie zu überzeugen. Doch Angie schüttelt lediglich müde den Kopf und winkt ab:" Hör mal, was du da erzählst. Bist du neuerdings Psychologe? Ich stecke in einer Sackgasse, wieso sieht das denn keiner außer mir? Es gibt keinen Ausweg." "Und das rechtfertigt das hier?", frage ich anklagend und deute auf die Medikamentenpackung. Es ist zum Haare raufen. Ich bin mit meinem Latein am Ende, ich bin vollkommen fertig. Angie ist am Boden, sie ist vollkommen verzweifelt, sie sieht keinen Ausweg mehr. Wie konnte es nur jemals so weit kommen? In welchen Momenten habe ich versagt? Wann hätte ich mehr für sie da sein müssen, damit es nicht soweit gekommen wäre? Ich wünschte, ich wüsste es. War der Auslöser für diesem ganzen Schlamassel Esmeralda? Der Heiratsantrag? Oder hat das ganze schon früher angefangen? Angie wird mir auf diese Fragen niemals antworten. 

Wenn das überhaupt noch möglich ist, wird Angie noch blasser. Ihr Anblick ist wirklich besorgniserregend. Wie lange ihr Körper dem Nährstoffmangel noch trotzen kann kann ich nicht beurteilen, lange ist es aber sicher nicht mehr. Wenn ich doch nur etwas tun könnte. "Alles hat ein Ende, so war es schon immer und so wird es immer bleiben", flüstert sie. Eine Gänsehaut überkommt mich. Kann mich mal jemand kneifen? Ich hoffe so sehr, dass das hier ein Albtraum der ganz schlimmen Sorte ist. "Nein!", sage ich bestimmt. "Oh doch und das weißt du. Und du weißt, dass es mit mir ebenfalls dem Ende zugeht. Ich bekomme mich nicht in den Griff, ich habe keine Kontrolle über da, was ich sage und tue. Ich bin wie gefangen", fährt sie fort. "Das ist doch Irrsinn", fahre ich sie an, doch sie redet weiter:" So habe ich ein letztes Mal Kontrolle über etwas, das wichtig ist." "Stopp!", fahre ich ihr über den Mund. "Mein Leben", beendet sie ihren Satz. "Hör sofort mit diesen Schauermärchen auf!", flehe ich sie an. Mir ist ganz flau, bunte Pünktchen tanzen vor meinem Auge und mir treten Tränen in die Augen. Tatsächlich hört Angie auf, mir Angst zu machen. Auch in ihren Augen erkenne ich Tränen. Das kann es nicht gewesen sein, das darf nicht sein. Die Welt beginnt sich zu drehen und ich taumle einen Schritt auf Angie zu. "Das darfst du nicht tun", wimmere ich. Mir ist es völlig egal, ob ich in diesem Moment als Schwächling dastehe, mir ist es egal, was die Menschen, die an uns vorbeigehen denken und mir ist es egal, wie ich gerade aussehe. Das Einzige, das mir nicht egal ist, ist, was mit Angie passiert. "Warum willst du das alles aufgeben? Dein Leben, das doch so mit Musik und Freude gefüllt war. Was veranlasst dich dazu?Was gibt dir das Recht?", frage ich sie verzweifelt. "Ich. Ein letztes Mal etwas tun, was ich mit meinem Gewissen abgeklärt habe, dessen Folgen ich mir bewusst gemacht habe, dessen Risiken ich abgewogen habe. Meinen Willen über das setzen, was die Essstörung aus mir gemacht hat. Etwas aus reiner Überzeugungskraft zu tun. Ich zu sein, einfach ich, ohne Zusätze. Kannst du das denn nicht nachvollziehen?", antwortet sie, den Blick klar. "Ist das das einzige, was du tun kannst? Musst du anderen dafür etwas nehmen, das sie lieben und vermissen werden?", frage ich abwesend nach. "Was denn?", fragt sie ehrlich verwundert nach. "Dich", antworte ich schlicht. Angie schweigt. Ich weiß nicht, ob mir das lieber ist. Ich muss es ihr beweisen. 

"Angie, komm zu mir", fordere ich sie klar auf. Sie schaut mich verwundert an. "Wie meinst du?", fragt sie verwirrt. "Sei du selbst und gehe aus reiner Neugier zu mir", erläutere ich ihr kurz. Angie zögert, dann macht sie ein paar kleine Schritte, ehe sie vor mir steht. "Das warst du alleine. Mit deiner eigenen Kraft, die du in dir hast.War das schwer?", frage ich. Sie schüttelt den Kopf, während ihr eine weitere Tränen über die Wange läuft. "Wenn man mit Flügeln geboren wurde, sollte man alles dazu tun, sie zum Fliegen zu benutzen", flüstere ich während ich merke, das auch mir die Tränen über die Wangen strömen. Wir stehen und gegenüber, blicken einander an, vergessen von der Realität, gefangen in unserer kleinen Welt. Ich mache einen Schritt auf Angie zu, sodass kaum noch Luft zwischen uns passen würde. Angie schließt die Arme um mich und ich umfasse sanft ihren schmalen Rücken. "Es tut mir Leid", flüstert sie. Dann bricht sie in meinen Armen zusammen. 

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