92. Kapitel: Angie

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Ich zittere, bin mir meiner letzten Worte bewusst, auch wenn mir die Bedeutung schwer fällt zu realisieren. Ich habe es getan. German die Wahrheit über meinen wirklichen Zustand gestanden. Die ganzen Zweifel, die innere Zerrissenheit, all das. Ich habe gestanden, dass ich nicht mehr kann; am Ende meiner Kräfte bin. Und er hat hält mich trotz allem noch immer in seinem Arm. Meine Worte haben ihn überrascht, das habe ich deutlich gesehen. Erschreckend, wie gut ich schauspielern kann. Die ganze Zeit über habe ich gedacht, dass German ganz genau weiß, wie es in mir aussieht, wie ich mich fühle. Aber wieso sollte er auch? All die Jahre war es meine Methode, mich vor den Sorgen anderer durch Lügen und Lächeln zu verstecken. So hat niemand Verdacht geschöpft. Im Nachhinein war das sicherlich nicht der richtige Weg. Doch jetzt bin ich ehrlich. Was bringt mir das Versteckspiel noch? Meine Mutter hat erkannt, wie schwach ich bin und German gegenüber war ich ehrlich. Es hat keinen Sinn mehr zu leugnen, wie sehr mich die Essstörung verändert und zerstört hat. Ich lebe kein vollwertiges Leben mehr, mein Leben beruht auf Lügen und vorgegaukelten Tatsachen. All die Zeit habe ich jeden von mir gestoßen, der mich durchschauen konnte, ich wollte meine eigene Situation nicht gefährden, auch wenn das absolut unklug war. Nur German war und ist immer an meiner Seite. Ich bin mir sicher, dass er mich nicht alleine lassen wird, er wird auf mich aufpassen. Weil ich ihm etwas wert bin. Noch niemand hat mich mit einem solch liebevollen Blick angesehen, wie German es jeden Moment tut. Niemand hat mich je so wertgeschätzt wie er es tut und dafür liebe ich ihn mehr, als er sich vorstellen kann. 

Ich richte meinen Blick auf ihn, meinen Schwager, der mir in letzter Zeit so oft das Leben gerettet hat. Schwere Schatten ruhen auf seinem Gesicht, die Stirn von tiefen Sorgenfalten zerfurcht. Er betrachtet mich nachdenklich, aus seinem Blick meine ich Angst und Sorgen herauslesen zu können. Dabei war ich doch endlich ehrlich zu ihm! Wenn ich der einzige Grund bin, wieso er so traurig und verzweifelt aussieht, hatte es wohl eine intuitive Richtigkeit, mich und meine innersten Gefühle und Gedanken vor ihm zu verstecken. Ich bin es, die ihm solche Sorgen bereitet. Mutwillig hat er sein Leben in Buenos Aires aufgegeben, um mir beizustehen. Als er meinen Blick bemerkt, blinzelt er mehrmals, als müsste er ein Bild vor seinen Augen verscheuchen. "Ich werde dir helfen, versprochen", flüstert er mit ruhiger Stimme. Mein Blick verschwimmt vor meinen Augen. Tränen steigen in mir hoch, doch ich blinzele sie entschlossen weg. In diesem Moment ist kein Platz für Zimperlichkeiten. Germans Blick wird weich. "Es ist schon so spät, lass uns doch schlafen gehen", schlage ich vor, um der unangenehmen Stille zu entkommen. Ist das Erleichterung, was sich in seinem Gesicht spiegelt? Ich will es mir gar nicht länger überlegen. Auf Germans Nicken hin, straffe ich meinen Rücken und öffne entschlossen die Tür. 

Ich habe gar nicht mitbekommen, dass all die Gäste bereits gegangen sind, im Moment habe ich keinerlei Gespür für die Zeit. Olga eilt hin und her um sich um die herumliegenden Reste zu kümmern. Kaum hat sie mich entdeckt, stürmt sie auf mich zu und nimmt mich fest in den Arm. "Du siehst gar nicht gut aus, Angie. Soll ich dir einen Tee machen?", fragt sie mich besorgt. Ich drehe mich zu German um, der mir zuzwinkert. "Gerne", stimme ich also Olgas Angebot zu. Ich gehe in die Küche und bin überrascht, dass ich nicht die Einzige bin, die zu später Stunde auf einen Tee wartet. Lucia ist ebenfalls in der Küche und mustert mich mit einem unerklärlichen Blick, bevor dieser verschwindet und sie mich anlächelt. "Wir hatten noch gar nicht die Zeit, miteinander zu reden, seit wir aus Paris verschwunden sind", stellt sie bedauernd fest. Sie hat Recht. Und das bedaure ich zu tiefst, Lucia ist mir sehr ans Herz gewachsen, eine der wenigen Personen, der ich alles erzählen kann. "Sag mal Angie, hast du etwa geweint?", erkundigt sie sich da. Ich senke meinen Kopf. Ist es Therapie oder Qual, wenn ich ihr die ganze Geschichte erneut erzähle? Sie spukt ohnehin in meinem Kopf herum. "Das kann dauern", warne ich sie vor, doch Lucia zuckt nur vergnügt mit den Schultern. "Geschichten erzählen sich am besten bei einer Tasse Tee und da diese vor uns steht, höre ich dir gerne zu", muntert sie mich auf. Ich hole tief Luft, dann springe ich über meinen Schatten mit einem kleinen Zögern und erzähle ihr, was auf der Party mit Angelica vorgefallen ist. 

Lucia unterbricht mich kein einziges Mal, sie lauscht mir angestrengt. Ich versuche während des Erzählens etwas über ihre Gedanken herauszufinden, doch sie hat ein neutrales Gesicht aufgesetzt und hält das meine gesamte Erzählung lang. Vielleicht macht das sie zu so einer guten Zuhörerin. Sie bildet sich kein sichtbares Urteil, sondern evaluiert innerlich, wägt ihre Worte ab, bevor sie antwortet. "Du bist stärker, als du dir zutraust, Angie", wiederholt sie die Worte, die German mir schon so oft gesagt hat. "Dass höre ich andauernd, aber wieso merke ich davon nichts? Ich fühle mich kaputt, bin am Verzweifeln, aber von meiner angeblichen Stärke kommt mir nichts zu Hilfe!", beschwere ich mich leise. Ich will nicht riskieren, dass Violetta etwas von unserer Unterhaltung mitbekommt. Sie ist sicherlich gerade bei ihrem Vater und genießt die gemeinsame Zeit mit ihm. "Aber du machst weiter, Angie. Du gibst nicht auf, versuchst die ganze Zeit mit aller Kraft die Menschen zu beschützen, die dir wichtig sind. Das zeugt davon, dass du noch immer Kraft hast, du musst nur daran glauben!", versucht sie mir Mut zu machen. Vielleicht hat sie Recht. Ich stehe jeden Morgen auf, ziehe mein Ding durch, auch wenn es mir verrückt macht, auch wenn ich dabei literweise Tränen vergieße. Ich gebe nicht auf und auch dazu gehört Kraft. Ich trinke meinen Tee leer und springe dann auf. "Danke für deine Worte, sie haben mir sehr geholfen", bedanke ich mich bei ihr und nehme sie in den Arm. Dann mache ich mich auf, mich umzuziehen und schlafen zu gehen. 

Ich stehe vor der angelehnten Zimmertür meiner Nichte und zögere. Soll ich hineingehen? Das Licht ist aus, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht noch wach ist. Violetta hat mich heute am Boden gesehen und ich weiß nicht, wie die Situation werden wird, wenn wir einander gegenübertreten. Sanft öffne ich die Tür einen weiteren Spalt. Da liegt sie in ihrem Bett, regelmäßig senkt sich die Decke unter Violettas Atem. Ich schleiche mich an ihr Bett, beuge mich zu ihr hinunter und küsse sie auf ihr Haar. "Ich habe dich lieb", murmele ich, dann verlasse ich ihr Zimmer und ziehe die Tür hinter mir zu. 

Als ich die Tür zum Schlafzimmer öffnen möchte, höre ich plötzlich Stimmen daraus. Ich brauche einen Moment, um sie zu identifizieren. Es sind German und Lucia, die sich mit gedämpften Stimmen unterhalten. Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. "...kann das nicht weitergehen...professionelle Hilfe...Angst um sie...gefährdet sich selbst..." Mir bleibt die Luft weg. Haben sich German und Lucia etwa gegen mich verschworen? Dann dringt mir ein Satz von German klar an mein Ohr und mir wird urplötzlich eiskalt:" Die Sorgen um sie machen mich kaputt, ich weiß nicht, wie lange ich noch stark für sie sein kann. Aber ich muss doch, ich liebe sie mehr als alles andere auf der Welt." Daraufhin drehe ich mich um und stürze die Treppe hinunter, werfe die Tür hinter mir zu und flüchte abermals tränenüberströmt vor meinen eigenen Dämonen in die tiefdunkle Nacht. 

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