16. Kapitel: German

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Meine Augen huschen zwischen Angie und Violetta hin und her, ehe Angie die Flucht ergreift. Schweigend verfolge ich mit den Augen ihre kleiner werdende Gestalt, bevor sie schließlich ganz im Schutz der Bäume verschwindet. Sie sah so schutzlos aus. Ein heftiges Pochen holt mich zurück in die Gegenwart. Unwillkürlich presse ich meine Hand auf meine Stirn um sie wenige Sekunden später blutgetränkt zu betrachten. Violetta steht immer noch da und beobachtet den Weg, den wenige Sekunden zuvor Angie entlanggelaufen ist. Da durchfährt sie ein Ruck und sie schaut mich an. "Papa, das sieht nicht gut aus, die Wunde muss bestimmt genäht werden. Wir gehen ins Krankenhaus, bitte", fordert sie mich unwirsch auf. Gerade sieht sie anders aus, älter, härter. Ihre Augen sind matt, doch ihr Blick durchbohrend. Mühsam stehe ich auf, unterdrücke das aufkommende Stöhnen Violetta zu liebe. "Kannst du gehen?", fragt sie mich. Ich mache einen Schritt auf den verletzten Fuß, doch sofort schießt ein brennender Schmerz meine Wade hoch und ich keuche auf. "Ich fürchte nein Vilu", antworte ich ihr notgedrungen. "Wir müssen wirklich in das Krankenhaus, komm her ich stütze dich", meint sie, nun spiegelt sich eindeutig Besorgnis in ihrer Stimme und ihren Augen. Violetta tritt an meine Seite und ich lege einen Arm um ihre Schulter. Langsam gehen wir ein paar Schritte. Der Schmerz ist allgegenwärtig, doch nun ist er halbwegs erträglich. "Geht es so, Papa?", erkundigt sich Violetta. Ich nicke zur Bestätigung und beiße meine Zähne zusammen. 

Als ich mich einige Minuten später im Klinikum wiederfinde, sind meine Schmerzen fast ins Unerträgliche gestiegen. Ein Arzt eilt sofort auf Violetta und mich zu und führt mich in einen Behandlungsraum. Dort bekomme ich etwas gegen die Schmerzen, während die Wunde an meiner Stirn genäht wird. Violetta wicht mir die ganze Zeit nicht von der Seite und hält meine Hand. Tränen schimmern in ihren Augen aus denen jeder kalte Ausdruck verschwunden ist. Mein Fuß wird geröntgt, es ist kein Bruch, nur eine Verstauchung. Ich muss mich nun einige Zeit schonen. 

Nach der Untersuchung setzten Violetta und ich uns in die krankenhauseigene Cafeteria. Es ist das gleiche Klinikum, in dem sich auch Angie befindet, die Gefahr, dass sie uns entdeckt ist also relativ hoch. Sie hat mich gefunden und ich war ziemlich hart zu ihr. Meine Gedanken nach meinem Besuch bei ihr und ihrer Abweisung haben einfach keine Ruhe gefunden, deshalb bin ich kopflos in den Wald gestürmt. Ich war verwirrt, verletzt und ziemlich durcheinander, weshalb ich nicht auf den Boden geachtet hatte und über die Wurzel gestolpert war. Den Ausdruck auf Violettas Gesicht war schrecklich, sie war bleich und hat Angie angestarrt, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Ich spürte nur die Schmerzen und eine bittere Enttäuschung, die ich ziemlich lange schon in mir aufgestaut hatte. Ich wollte tatsächlich Angie hassen, doch ich konnte es einfach nicht. Und auch jetzt empfinde ich etwas anderes für sie als Hass. Ich bin besorgt um sie, ob sie sich wohl auch gerade solche Sorgen macht? Ob sie mit geröteten Augen in ihrem Zimmer liegt und ihre Suppe verweigert? 

"Monsieur Castillo?", erkundigt sich eine männliche Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und blicke in die Augen von Monsieur Bouvier. Er schaut ziemlich finster drein, seine verschränkten Hände zeugten ebenfalls von Empörung. Dann wandert sein finsterer Blick zu meiner Tochter. "Ihr beide habt mich angelogen. Von wegen Mademoiselle Carrara muss sich ausruhen. Eine Schwester wollte ihr das Essen bringen, doch ihr Bett war leer. Es war nicht schwer mir alles zusammenzureimen. Um so überraschender, Sie hier anzutreffen", sagt er verärgert. Neben mir rutscht Violetta unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Violetta war mit Angie abgehauen? Ich hatte mir gar nicht die Frage gestellt, wie die beiden aus der Klinik herausgekommen sind, aber dass Angie soweit ging, nur um mir zu helfen?.... "Monsieur, ja, ich habe Angie geholfen, mein Papa ist gestürzt und wir haben ihn gesucht. Angie ließ sich nicht davon abbringen ihn selbst suchen zu gehen, ehrlich", erklärt Violetta nervös. Monsieur Bouvier nickt langsam, während sein Blick noch immer auf Violetta kleben bleibt. "Und wo befindet sich Mademoiselle Carrara gerade?", fragt er dann. Violetta und ich wechseln einen verwunderten Blick. Aber wie konnte ich eigentlich auch nur denken, dass Angie freiwillig zurück in die Klinik geht? Ihr hat es hier nicht gefallen und die Angebote ihr zu helfen hat sie strikt abgelehnt. Es war also die beste Möglichkeit für Angie gewesen einfach abzutauchen. "Ich dachte, sie wäre in die Klinik zurückgekehrt, Monsieur", antwortet meine Tochter an meiner Stelle. Monsieur Bouvier seufzt tief und verlässt die Cafeteria. Ich schaue ihm noch kurz hinterher, dann schenke ich meine Aufmerksamkeit meiner Tochter.

"Denkst du, Angie ist in ihrer Wohnung?", fragt Violetta vorsichtig. Ihr Gesicht ist blass und sie zittert am ganzen Körper. "Hey, Vilu", flüstere ich sanft,"Angie geht es bestimmt gut, sie kann auf sich selber aufpassen und kennt sich hier aus. Sicherlich ist sie in ihrer Wohnung und sitzt an ihrem Klavier." Ich nehme Violettas Hand und drücke sie leicht. Da war es um Violetta geschehen. Sie brach in Tränen aus. "Wie sie da stand. Sie stand einfach nur da, hat dir nicht geholfen. Sie hat gelächelt! Sie hat gelächelt, obwohl du geblutet hast und Schmerzen hattest, sie hat gelächelt!! Sie hat dich nichts gefragt und dass, obwohl du wegen ihr fort bist. Wegen dieser verdammten Magersucht, die sie kaputt macht! Und super, die tolle Violetta Castillo hat es geschafft, ihr noch mehr Salz in die Wunden zu streuen. Super!" Violetta wischt sie die Tränen aus ihrem Gesicht. "Du hättest sie sehen sollen, bevor wir losgegangen sind. Aufgesprungen ist sie, sie wollte dich unbedingt finden. Ohne sie hätten wir dich nicht gefunden, Angie wollte unbedingt weiterlaufen! Sie hat mir Mut gemacht, sie wollte dich nicht aufgeben. Ohne sie, ich sage es dir, ich wäre umgekehrt. Und dann hat sie dich entdeckt. Und nun ist sie fort, irgendwohin, in ihre Wohnung, in einen Park, keine Ahnung. Und das obwohl sie so schwach ist!" Violetta schluchzt und ich lege ihr eine Hand auf den Arm. 

Angie wollte mir helfen, sie hat daran geglaubt, dass sie mich finden würde, sie wollte mich nicht aufgeben. Etwas verbindet uns, ein schmales Band, das nicht nur aus Freundschaft und Sympathie besteht. "Vilu, ich erkundige mich bei Pablo nach Angie's Adresse und dann gehen wir dorthin. Sie hat mich nicht aufgegeben und ich gebe sie nicht auf. Und hey, deine Worte waren nicht der Auslöser für ihr Verhalten, der lag wo anders", versuche ich sie zu trösten. Es muss einfach einen Weg finden, ich musste mich auf mein Herz verlassen, denn das würde mich sicherlich zu Angie führen. Was Angie gerade durch den Kopf geht? Besteht das Band für sie immer noch? Oder ist alles kaputt? 

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